Polanskis Bleibe

Wo im Film der Gott des Gemetzels zuhause ist

Von Christian Fleige




Noch stehen die Fassaden der antrainierten Großstadthöflichkeit.Foto: Szenenbild / Constantin Film

Eine Wohnung ist ein „meist aus mehreren Räumen bestehender, nach außen abgeschlossener Bereich in einem Wohnhaus, der einem Einzelnen oder mehreren Personen als ständiger Aufenthalt dient.“ So steht es im Duden. Dort lassen sich jedoch auch Synonyme finden, die der Definition, die so unterkühlt wie eine Betonfassade daherkommt, ein wenig Wärme schenken: Refugium, Domizil oder Zuflucht. Begriffe, die verdeutlichen, dass die Wohnung Heim und Schutz ist.
Der Filmemacher Roman Polanski kann mit diesem romantischen Sicherheitsmotiv, so scheint es, wenig anfangen: Die Wohnungen in seinen Filmen sind oftmals Monster.

In „Repulsion“ (dt. „Ekel“, 1965) verliert die junge Carole in einem Londoner Stadtapartment allmählich den Verstand und tötet schließlich zwei Männer, die der jungen Frau auf ganz unterschiedliche Art zu nahe gekommen sind. Die perfekt inszenierte Wohnung ist dabei nicht nur Tatort, sondern auch Spiegelbild des figürlichen Verfalls: Risse tun sich auf, Hände grabschen aus weichen Wänden heraus nach dem Mädchen.
Im Film „Rosemary’s Baby“ (dt. „Rosemaries Baby“, 1968) steht ebenfalls ein Apartment im Mittelpunkt, das das noch kinderlose Paar Rosemary und Guy Woodhouse trotz einer eindringlichen Warnung vor den Nachbarn durch die Vormieterin bezieht. Und auch Rosemarys Schwangerschaft steht unter keinem guten Stern: Sie wird mehr und mehr zur hilflosen Gefangenen der eigenen vier Wände, während das Böse in ihr wächst.
Der Verweis auf die Wohnung als Austragungsort des filmischen Horrors findet sich bei einem weiteren Werk Polanskis schon im Titel: „Le locataire“ (dt. „Der Mieter“, 1976). Auch hier geht es um Wahnvorstellungen, um Selbstmord, und eine außerordentlich misstrauische Nachbarschaft.
Die Wohnung verkommt in allen drei Filmen Polanskis zu einem Ort des fatalistischen Niedergangs. Dass die drei gelungenen filmischen Dekonstruktionen einer heimeligen Sicherheitsillusion, die mit etwas Wohlwollen alle dem Horror-Genre zugeschrieben werden können, auch als sogenannte Apartment-Trilogie bekannt sind, scheint nur billig.

Schlachtfeld Wohnung

Warum hier davon so ausgiebig die Rede ist? Auch Polanskis neuestes Werk „Carnage“ (dt. „Der Gott des Gemetzels“, 2011), eine Adaption des Theaterstücks „Le dieu du carnage“, geschrieben von der französischen Schriftstellerin Yasmina Reza, spielt fast ausschließlich in einem schickeren New Yorker Apartment.
Es ist das Zuhause des Elternpaares Penelope und Michael Longstreet, gespielt von Jodie Foster und John C. Reilly. Zu Gast ist die Familie Cowan, oder besser gesagt deren Vorsteher Nancy und Alan, gespielt von Kate Winslet und Christoph Waltz. Mehr als diese vier äußerst unterschiedlichen, famos verkörperten Figuren bekommt der Zuschauer nicht zu sehen: Eine Wohnung, vier Personen, die ganzen, fast schon zu kurzen 80 Minuten lang.
Der Anlass der Zusammenkunft ist ein äußerst brutaler: Der kleine Cowan hat den kleinen Longstreet ordentlich mit dem Stock malträtiert und ihm dabei zwei Zähne ausgeschlagen. Dass das Treffen der Eltern einen ganz ähnlichen Ausgang nehmen wird, lassen die zahlreichen Seitenhiebe ab der ersten Minute erahnen.
Der entscheidende Katalysator ist dabei die Wohnung. Ihre Beschränktheit, so scheint es, hetzt die einzelnen Charaktere gegeneinander auf und treibt jeden einzelnen in eine Fülle an abstoßenden Offenbarungseiden. Das Aussetzen des Familienhamsters gehört dabei noch zu den harmloseren und humorvolleren Bekenntnissen. Mit fortschreitender Handlung und hinzufließendem Alkohol steigt der Druck in der Wohnung wie in einem Schnellkochtopf. Bünde lösen sich und das großartige, durch den überschaubaren Raum begünstigte famose Einstellungsspiel bringt ohne Pause teuflische Konstellationen hervor, in welchen sich die Anwesenden immer wieder aufs Neue an die Gurgel gehen. Frauen gegen Männer. Partnertausch. Last man standing. Das Apartment mutiert zu einem gesellschaftlichen Schlachtfeld, auf dem alle Werte abhanden kommen.
Auch wenn die Handlung oftmals haarsträubend ist – „Carnage“ ist kein Horrorfilm und ist nur schwer mit den drei zuvor erwähnten Filmen zu vergleichen: kein Wahn, keine fantastischen, die Realität bedrohenden Bilder. Eine Konstante ist die negierte Funktion der Wohnung, welche im neusten, besonders sehenswerten Film Polanskis Schaubühne für die Häßlichkeiten des gegenwärtigen Menschen ist.

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