Nachts im Museum

Von Dirk Hertrampf



Foto: Katharina Schmidt

Stille. Ein Gut, dessen Angebot um zwei Uhr morgens fast überall seine Nachfrage übersteigt. Doch wenn die Akrützelredaktion von Sonntagnacht (oder – für die Spitzfindigen – Montagmorgen) einem Bienenkorb während eines Hornissenangriffs gleicht, dann ist eine ruhige Ecke selbst mit Gold nicht aufzuwiegen. Zum Glück gibt es eine Treppe tiefer den großen UHG-Innenhof. Tagsüber oft nur knapp hinter dem Times Square, was den Grad der Geschäftigkeit angeht, herrscht hier nach Sonnenuntergang beinahe der absolute akustische Nullpunkt.

Außerdem bietet der Innenhof Erholung von Redakteuren, die ihren Artikel unbedingt noch einmal gegengelesen haben wollen. Oder Lektoren, die mit einem den Text nochmal durchgehen wollen, weil „da in der dritten Zeile immer noch ein Komma fehlt“. Oder der Chefredakteurin, die jeden, der an ihrem Büro vorbeikommt und nicht vollauf beschäftigt aussieht, mit zeitraubenden Klein- und Kleinstaufgaben betraut. Hier noch das Layout des Veranstaltungskalenders überarbeiten, dort nochmal das Inhaltsverzeichnis basteln, sich eine Bildunterschrift einfallen lassen, und irgendjemand müsste auch mal wieder aufwaschen (oder – erneut für die Spitzfindigen – abwaschen), weil alle Becher bereits Kaffeeränder haben. Das Akrützel ist ein Baumarkt: Es gibt immer was zu tun.
So malerisch und postkartenidyllesk der Hof wirkt, solange er von dekorativen Häuflein aus Studenten besiedelt ist, so gespenstisch und geheimnisvoll ist er, wenn selbst der Pförtner nach Hause gegangen ist. Diese Mischung aus vertraut und fremd macht einen großen Teil seiner Faszination aus und lässt einige so schnell ihre Zigaretten aufrauchen, dass der Rest der Nacht mit Magenschmerzen bewältigt werden muss.
Diese scheinbar aus der Zeit gefallenen Nachtschichten gehören zum Leben des Akrützels. Sie lassen die Redakteure jedes anstehende Uni-Referat, jeden Zwist in der Partnerschaft oder den dringend nötigen WG-Großputz wenigstens für ein paar Stunden vergessen. Alles wird durch das ständige Pulsieren von Gedanken über Hurenkinder, Bleiwüsten und Schusterjungen verdrängt. Das Akrützel ist ein Mantel-und-Degen-Film: Eine für alle und alle für eine (gute Ausgabe).
Das UHG dabei zu nachtschlafender Stunde zu erleben, ist quasi nur der Bonus. Solange innerhalb der Redaktionsräume gearbeitet wird, könnte alles auch in Bangladesch oder auf dem Eyjafjallajökull stattfinden, spannend wird es erst, wenn die Übermüdung einen nach Hause treibt. Das Akrützel ist eine Pilgerreise: Ich bin dann mal weg.
Vielen Erstsemestern mag das UHG vorkommen wie die Zauberschule Hogwarts; verwinkelt, voller Erker, Treppen und Türen, die man nie dort erwartet hätte. Immer, wenn man glaubt, halbwegs zu wissen, wo man hin muss, ist da ein neuer Aufgang in eine ganz neue Etage und man kann nur hoffen, dass es nicht gerade jene ist, die von dreiköpfigen Riesenhunden oder seelenaussaugenden Geistern bewacht wird. Richtig gruselig wirds aber erst, wenn bestimmte Türen durch das Sicherheitssystem verschlossen sind. Dann bleiben nur zwei Wege zur einzig offenen Ausgangstür: Zum einen der lange durchs Erdgeschoss. Erst über den Innenhof mit seiner Umrankung aus Weinreben, die nach Mitternacht zum Leben erwachen und Unvorsichtige mit Haut und Haaren verschlingen, vorbei am Aufzug, dessen pneumatisches Pfeifen klingt wie das Röcheln tödlich Verwundeter. Dann durch einen unbeleuchteten Gang tappen und dabei dem eigenem Atem lauschen. Ja nicht die Treppenstufen zur Vorhalle der Aula übersehen! Zum anderen der kurze, direkt von der Redaktionstür rauf bis fast unters Dach – nicht die Fledermäuse aufschrecken! – und dann durch die Altertumswissenschaft, beliebt aufgrund der vielen Büsten, die dort im Halbdunkel besonders schaurig zur Geltung kommen. Kurz vor der Treppe ins Erdgeschoss wird zum Glück ein Prachtdolch in einer Vitrine ausgestellt, welche zur Selbstverteidigung leicht aufgebrochen werden kann. Nur für den Fall der Fälle. Da wirkt eine kurze Pause im Innenhof (außer Reichweite der Weinreben) und anschließendes Durcharbeiten bis zum Morgengrauen in der gelichteten Redaktion direkt anheimelnd. Das Akrützel ist ein Horrorfilm: Ich bin gleich wieder da.
Bleibt nur noch, in Anbetracht dieser 300. Ausgabe der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass das Akrützel auch ein Michael-Ende-Roman sein wird: Eine unendliche Geschichte.



Foto: Katharina Schmidt

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