„Jetzt sperren wir den ein“

Ein Gespräch mit Roland Jahn, Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde

Das Gespräch führten Kay Abendroth und Christian Fleige




Jena, 19. Mai 1983, die Friedensgemeinschaft Jena beteiligt sich mit eigenen Transparenten an der offiziellen Demonstration aus Anlass des Pfingsttreffens der FDJ im Bezirk Gera. Roland Jahn läuft in der ersten Reihe ganz links.

Foto: Bernd Albrecht, Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft

Roland Jahn wurde 1953 in Jena geboren. Hier ging er auch zur Schule und begann 1975 Wirtschaftswissenschaften an der FSU zu studieren. Zwei Jahre später wurde er der Uni verwiesen. Jahn begann mehr und mehr am DDR-Staat zu zweifeln und durch zahlreiche Protestaktionen geriet er ins Blickfeld der Stasi. Schließlich wurde er im Juni 1983 gewaltsam ausgebürgert.
In Westberlin arbeitete Jahn dann als Journalist, unter anderem für das ARD-Politmagazin Kontraste, und unterstützte von dort die Opposition in der DDR. Nach dem Fall der Mauer trug er mit seinen Fernsehbeiträgen zur Aufarbeitung bei. Seit März 2011 ist er Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes.


Wie dick ist eigentlich Ihre Stasiakte?
Das kann ich Ihnen gar nicht sagen. Es sind etliche Bände, die sowohl die Zeit in Jena betreffen, als auch die Zeit in Westberlin. Auch dort war die Stasi präsent, versuchte mich zu überwachen und meine journalistische Arbeit für Radio, Fernsehen und Zeitung zu verhindern.

Erinnern Sie sich noch an den ersten Eintrag?
Nein, aber ich erinnere mich an die erste Einsicht in die Akte im März 1990. Als Reporter des ARD-Magazins Kontraste begleitete ich das Bürgerkomitee bei seinem ersten Gang ins Stasiarchiv. Dort wollte man schauen, wo die Stasiakten liegen und wie sie gesichert werden können.

Wie war das erste Durchblättern der Akte?
Das war schon ein sehr beeindruckendes Erlebnis. Man ahnte immer, dass die Stasi irgendwie dabei war. Aber alles schwarz auf weiß zu lesen, ist schon erschreckend. Die Akteneinsicht hat Dinge konkret beschrieben, die mir unter die Haut gingen. Als ich die Skizze meiner Westberliner Wohnung sah, wie welches Möbelstück angeordnet war, als ich sah, wie man meinen Briefkasten in Westberlin observiert und dort Post gestohlen hatte, als ich sah, wie man sogar den Schulweg meiner achtjährigen Tochter in Augenschein genommen hatte, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken.

Sprechen wir über Ihre Zeit in Jena. Sie wurden 1977 exmatrikuliert. Wie kam es dazu?
Das ist eine längere Geschichte. Ich sage es mal so: Man wird ja nicht als Staatsfeind geboren, sondern man wird zum Staatsfeind gemacht. Die Exmatrikulation war eine Quittung des Staates für mein Verhalten. Ich bin ein Mensch, der Dinge hinterfragt, der sich nicht alles vorsetzen lässt.
Anlass meiner Exmatrikulation war mein Protest gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann, der in der DDR Auftrittsverbot hatte, weil er zu kritisch war. Nach einer Vortragsreihe im Westen 1976 wurde ihm die Wiedereinreise in die DDR verwehrt. Mein Protest gegen diese Ausbürgerung, in einem Seminar an der Universität, hat am Ende dazu geführt, dass ich rausgeworfen wurde. Das war der Punkt, an dem das Maß voll war. Es hieß dann: „Roland Jahn darf nicht weiterstudieren.“

Wie groß war der Einfluss des DDR-Regimes auf die Universität?
Nehmen wir als Beispiel den Bericht über dieses Seminar, in dem wir offen über die Ausbürgerung Biermanns diskutiert hatten. Diesen Bericht hat ein Spitzel geschrieben – unser Seminarleiter, der als
Stasimitarbeiter an der Uni fungierte.
Unabhängig von Personen muss man erkennen, dass die Staatssicherheit insgesamt ein Klima der Angst verbreitet hat. Für mich war es sehr enttäuschend mitzuerleben, wie mir am Vorabend der Abstimmung über meine Exmatrikulation meine Kommilitonen noch auf die Schulter klopften und sagten: „Roland, wir halten zu Dir.“ Und am nächsten Tag haben sie 13 zu eins gegen mich gestimmt. Durch dieses Erlebnis wurde mir klar, dass das Klima der Angst selbst auf meine Kommilitonen gewirkt hat.

Sechs Monate zuvor wurde ein Freund von Ihnen ebenfalls exmatrikuliert. Sie haben sich zwar mit ihm solidarisiert, aber nicht öffentlich protestiert. Was ist in diesen sechs Monaten passiert?
Auf alle Fälle war das Erlebnis, dass er wegen seiner politischen Haltung und Meinung exmatrikuliert wurde, Teil eines Erkenntnisprozesses bei mir: Die Meinungsfreiheit ist an dieser Universität nicht vorhanden. Dass sie fehlte, hat mich herausgefordert. Ich wollte meine Meinung sagen können, gerade durchs Leben gehen und offen politisch diskutieren. In dem Sinne habe ich versucht, das Schicksal meines Freundes zu verarbeiten, indem ich mir ein Beispiel an ihm genommen habe.

Hat Ihre Exmatrikulation Sie gebremst?
Ich habe danach gegen meinen eigenen Rauswurf protestiert, auch öffentlich. Am 1. Mai habe ich meine Kommilitonen bei der Parade, die jedes Jahr offiziell stattgefunden hat, begleitet. Da marschierten immer alle Studenten an der Ehrentribüne vor der SED-Kreisleitung und der Leitung der Stadt vorbei. Ich selbst marschierte mit einem weißen Plakat, auf dem nichts stand. Es sollte deutlich machen, dass meine Meinung verboten ist.

Wissen Sie, ob nach der deutschen Einheit hier an der FSU eine angemessene Aufarbeitung erfolgt ist?
Was heißt schon „angemessen“? Ich kann sagen, dass die Aktivitäten, die in Jena stattgefunden haben, sich positiv abheben von dem, was an anderen ostdeutschen Universitäten passiert ist. Aber Aufarbeitung kann es nicht genug geben.
Die FSU hat immerhin Anfang der 90er- Jahre eine öffentliche Veranstaltung zur Rehabilitierung von politisch exmatrikulierten Studenten gemacht. Zudem gab es mehrere Veranstaltungen, auf denen Studenten von ihrem Schicksal erzählen konnten. Es gab vor ein paar Jahren einen Sammelband, in dem vieles beschrieben ist, was an dieser Universität in der Zeit der Diktatur geschah. All das schließt jedoch nicht aus, dass man das noch verbessern kann: beispielsweise mit Veranstaltungen und einem entsprechenden Lehrstuhl, der auch Professuren beinhaltet.

Warum wurden Sie 1983 gezwungen die DDR zu verlassen?
Das ist abendfüllendes Programm, aber die Kurzversion ist: Der Rausschmiss aus der Universität hat dazu geführt, dass ich diesen Staat insgesamt in Frage gestellt habe, weil er mich aus seinen Strukturen entfernt hat. Das heißt, es war ein weiterer Punkt auf dem Weg zum Staatsfeind. Und so kamen andere hinzu.
Eine entscheidende Rolle spielte der Tod meines Freundes Matthias Domaschk, der in der Stasi-U-Haft 1981 im Alter von 23 Jahren ums Leben gekommen ist. Wenn ein junger Mensch, der einfach nur ein selbstbestimmtes Leben führen möchte und von einer gerechten Gesellschaft träumt, in U-Haft genommen wird und nicht lebendig wiederkommt, dann stellt man sich schon die Frage „Was ist das für ein Staat?“ Noch dazu, weil dieser Staat versuchte Matthias’ Tod zu vertuschen.

Wie sah Ihre Reaktion aus?
Dieses Ereignis hat mich herausgefordert und ich habe meine Aktivitäten verstärkt, um auf dieses Unrecht aufmerksam zu machen. Ich habe neue Aktionen gemacht, wie den Protest an einem anderen 1. Mai an der Ehrentribüne. Da war ich als Stalin und Hitler geschminkt, um deutlich zu machen, dass es schlimm ist, dass in den Diktaturen die Menschen immer wieder an diesen Tribünen vorbeilaufen und jubeln – ohne zu hinterfragen, was in diesem Land eigentlich geschieht.
Einmal bin ich mit einer polnischen Fahne am Fahrrad durch Jena gefahren. Auf der stand „Solidarność – z polskim narodem“: Eine Sympathieerklärung für das polnische Volk und die Freiheitsbestrebungen der Gewerkschaft Solidarność in Polen.

Und das Regime ließ sich das gefallen?
Diese Aktionen haben dazu geführt, dass ich immer weiter in den Blick der Staatssicherheit geriet. Irgendwann war der Punkt erreicht, an dem die Stasi sagte: „Jetzt sperren wir den ein.“ Das war im Herbst 1982. Proteste sowohl in der DDR als auch in Westdeutschland haben aber dazu geführt, dass ich – obwohl ich zu 22 Monaten Gefängnis verurteilt wurde – nach insgesamt sechs Monaten wieder entlassen wurde.
Trotz dieser abschreckenden Maßnahme der Inhaftierung habe ich weitergemacht und beispielsweise mit Freunden Demonstrationen organisiert. Dann hat der Staat nochmal zugeschlagen. Nun konnte und wollte man mich aber nicht mehr einsperren, da hat man mich eben ausgesperrt. Mit Knebelketten gefesselt hat man mich aus der Stadt gefahren, nachts in einen Zug geworfen und abtransportiert – nach Bayern, in den Westen.

Vor Ihrer Zwangsausreise hat sich Anfang‚’83 die Friedensgemeinschaft Jena gegründet.
Uns war wichtig, dass wir unabhängig von der Evangelischen Kirche werden, die uns in den Jahren zuvor eine Zuflucht geboten hat. Diesen Schutzraum wollten wir verlassen. Wir wollten rein in die Gesellschaft, wir wollten auf die Straße, wir wollten allen Menschen unsere kritische Haltung gegenüber dem Staat zeigen. Deswegen haben wir eine Gruppe gegründet, die sich Friedensgemeinschaft Jena nannte, wobei der Begriff Frieden für uns weiter gefasst war und wir das auch als eine Art Menschenrechtsgruppe gesehen haben. Frieden hieß für uns Leben in Gerechtigkeit.

Also wollten Sie nicht länger im Untergrund agieren?
Richtig. Wir haben gesagt, wir warten nicht darauf, dass wir demokratische Rechte gewährt bekommen, wir nehmen sie uns einfach. Wir nehmen uns das Recht auf Informationsfreiheit, wir nehmen uns das Recht auf Versammlungsfreiheit, wir nehmen uns das Recht auf Meinungsfreiheit. Freiheit muss man sich nehmen.

Fast 30 Jahre später stehen Sie der Stasi-Unterlagen-Behörde vor. Wie wird man eigentlich Bundesbeauftragter?
Lacht. Ja, wie wird man Bundesbeauftragter? Erst einmal habe ich nach meiner Zwangsausbürgerung von Westberlin aus die Menschen in der DDR unterstützt – durch freie Informationen, indem ich organisiert habe, dass Bücher, Zeitungen und Druckmaschinen in den Osten geschickt wurden. Und ich habe vor allen Dingen bei den westlichen Medien gearbeitet. Die Informationen, die ich aus meinem Oppositionsnetzwerk in der DDR hatte, landeten so über die Westmedien auch wieder im Osten, sodass die Menschen in der DDR über die Missstände im eigenen Land informiert wurden. Das war eine wichtige Arbeit, als die Mauer noch stand.

Und danach?
… habe ich an der Aufarbeitung der Diktatur in der DDR mitgewirkt, indem ich als Fernsehjournalist viele Filmberichte zu diesem Thema gemacht habe. Im letzten Herbst gab es den Vorschlag, mich zum Bundesbeauftragten zu machen und ich habe diesen Vorschlag angenommen.

Nun wird die Behörde voraussichtlich 2019 abgewickelt. Werden Sie dann Bundespräsident?
Also erst einmal geht es darum, dass die Behörde jetzt gut weiterarbeitet. Die Frage, was aus ihr wird, wird in den nächsten Jahren politisch diskutiert werden. Eins ist sicher: Auf Aufklärung sollte diese Gesellschaft nicht verzichten, denn das ist ein Grundpfeiler unserer Demokratie.
Was mich persönlich betrifft: Ich bin für fünf Jahre gewählt und für diese Zeit beurlaubt. Ich könnte danach also auch wieder als Journalist arbeiten.

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