Mit starkem Willen

Studienalltag mit Handicap

Von Laura Wesseler und Anna Zimmermann




Nach Angaben des statistischen Bundesamtes gilt unter den 25- bis 35-Jährigen jeder 48. als schwerbehindert.

Foto: Katharina schmidt

Marcus Kietzer lacht viel. Er ist Sportstudent, durchtrainiert und sitzt im Rollstuhl. Mittlerweile seit über einem Jahr. Auf einer Skitour mit der Universität verschätzte er sich im Tempo, fuhr direkt auf einen Pfahl zu und konnte nicht mehr ausweichen. Die Folgen waren schwerwiegend: Operation in Salzburg, ein halbes Jahr Klinik in Tübingen. Mittlerweile studiert er wieder, aber unter völlig anderen Bedingungen. Marcus ist querschnittgelähmt, sein ganzes Leben hat sich verändert.

Barrieren stellen sich ihm in den Weg, die er vorher überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Kopfsteinpflaster, Bürgersteige, Treppen – Alltägliches muss mit anderen Augen betrachtet werden. Wie vielen Studenten in Jena es noch so geht, lässt sich schwer einschätzen. Nicht alle Einschränkungen sind so offensichtlich wie eine Lähmung, zumal sich Behinderungen nicht allein auf körperliche Aspekte beschränken. Das Studentenwerk definiert Behinderung in seiner 18. Sozialstudie wie folgt: „Studierende sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und damit ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ In dieser Studie aus dem Jahr 2006 geben neunzehn Prozent der Studenten in Deutschland an, mit Beeinträchtigung zu studieren, acht Prozent von ihnen leiden schwer darunter.
Michael Götz, Sachgebietsleiter des SSZ und Verantwortlicher der Universität für Studierende mit Behinderungen, schätzt, dass in Jena etwa sieben bis acht Prozent der Studenten betroffen sind. Eine genaue Zahl kann er nicht nennen, da bei der Immatrikulation nicht verpflichtend anzugeben ist, ob eine Behinderung oder eine chronische Krankheit vorliegt. Offenbart der angehende Student eine Beeinträchtigung, ist es ihm außerdem frei gestellt, ob er von Götz angeschrieben werden will oder nur bei Bedarf den Berater kontaktiert. „Die Bereitschaft wächst, offensiv mit der eigenen Krankheit umzugehen“, stellt der Behindertenbeauftragte fest.
Diese Aussage trifft ganz besonders auf Marcus zu, er geht positiv mit seiner Behinderung um. Er weiß, dass er eine Ausnahme im Sportstudium der FSU ist und bleiben wird. „Normalerweise ist das Studieren mit Behinderung hier nicht vorgesehen. Aber wenn ich an eine andere Uni hätte wechseln müssen, wäre es schlimm für mich gewesen. Ich habe mir hier schließlich etwas aufgebaut.“ Dass er sich nicht unterkriegen lässt, zeigt auch, dass der vormals passionierte Fußballtorwart nun Rollstuhlbasketball in der Erstligamannschaft der Jenaer „Caputs“ spielt. Marcus trainiert viermal in der Woche. Im Oktober, wenn die neue Saison anfängt, will er so fit sein, dass er auch in der ersten Liga mithalten kann.

Barrieren in den Köpfen

Nach seinem Unfall versuchte Marcus, wieder in sein altes Leben zurückzukehren. Er habe vor dem Institutsrat vorgesprochen, denn er wollte unbedingt weiterstudieren. Er glaubt, dass letztendlich seine guten Noten und die Tatsache, dass er nur noch einen Praxiskurs absolvieren muss, bei der Entscheidung geholfen haben, ihn seinen Bachelor weitermachen zu lassen. „Mein einziges Problem sind die Treppen, den Rest bekomme ich so hin“, hatte er damals den Leuten am Institut gesagt.
„Studenten mit Behinderungen sind manchmal engagierter als nicht behinderte. Sie wollen sich einbringen und zeigen eine große Bereitschaft, über sich hinauszuwachsen.“ Jörg Schulz, Behindertenbeauftragter der FH, bedauert dabei, dass dies von der Allgemeinbevölkerung viel zu häufig übersehen werde: „Anfeindungen sind nicht selten“, berichtet er. Einer Rollstuhlfahrerin etwa wurde vorgeschlagen doch einfach zu Hause zu bleiben, wenn sie mit ihrem Gefährt nicht weiter komme. Und sogar Marcus, der erst seit einem Jahr eingeschränkt ist, hat schon negative Erfahrungen gemacht. „Anwohner haben sich über die Lautstärke beschwert, mit der ich die Rampe zu meinem Wohnhaus hinauffahre“, erzählt er. „Barrierefreiheit“ bedeutet anscheinend nicht gleichzeitig die Freiheit von Barrieren in den Köpfen der anderen. Menschen mit Behinderungen müssen sich durchbeißen.
Ist das Ziel dann gesteckt, stehen den behinderten Studenten Hilfen zur Seite. An der Fachhochschule setzt sich Schulz für Nachteilsausgleiche und Fristverlängerungen zum Beispiel von Hausarbeiten ein. Der Nachteilsausgleich ist im Hochschulrahmengesetz (HRG) und dem Thüringer Hochschulgesetz verankert und bestimmt, dass die Prüfungsordnungen „den besonderen Belangen von Studierenden mit Behinderung“ Rechnung tragen müssen. Um eine Ausdehnung der Klausurdauer beantragen zu können, muss ein ärztliches Attest vorgewiesen werden. Der Prüfungsausschuss bestimmt dann, wie viel zusätzliche Zeit der Student für die Lösung der Aufgaben erhält. Auch Marcus Kietzer bestätigt, dass er sich nicht mehr so gut konzentrieren kann, seit er im Rollstuhl sitzt. „Ich kann eben nicht aufstehen und mich bewegen, wenn ich merke, dass die Konzentration weniger wird. Aber ich werde erst einmal die Prüfungen abwarten.“
Andere Studenten sind darauf schon eher angewiesen; diejenigen nämlich, die nicht körperlich, sondern psychisch eingeschränkt sind. „Leider hat sich die Gleichstellung von beidem bisher bei den wenigsten Menschen durchgesetzt“, bedauert Schulz. Da chronische Krankheiten oder Depressionen nicht unmittelbar zu sehen sind und der Grad der Einschränkung von außen schwer einzuschätzen ist, stoßen Betroffene häufig auf Unverständnis. Schulz sagt, dass sogar einige Prüfungsordnungen bisher nur eine physische Behinderung anerkennen, nicht aber eine psychische. Dabei seien es gerade seelisch kranke Menschen, die seine Beratung suchen. Für Rollstuhlfahrer sei eben der Rollstuhl bereits ein Ausgleich, depressive Studenten beispielsweise können auf so eine Hilfe nicht zurückgreifen.

Kommilitonen helfen

„Auch das Bachelor-Master-System hat ganz klare Auswirkungen auf behinderte Studenten. Der Druck ist größer und Beeinträchtigungen treten schneller zu Tage.“ Der Behindertenbeauftragte Götz berichtet von Studenten, die er nun einige Jahre kennt und bei denen er unterschiedliche Hochs und Tiefs miterlebt hat. Manchmal sei die Situation eben verzwickt, manch einem Studenten würde wahrscheinlich eine Pause gut tun, um körperlich und auch seelisch zu gesunden. Andererseits sei das Studium oft die zentrale Stütze im Leben und die würde dann wegbrechen.
Um den Studienalltag etwas zu erleichtern haben einige Studenten der Uni persönliche Assistenten. Für Marcus arbeiten zum Beispiel gleich zwei Kommilitonen, die sowieso in den meisten seiner Veranstaltungen sitzen. Sie helfen ihm unter anderem dabei die allgegenwärtigen Treppen zu erklimmen. Die Finanzierung übernimmt zunächst einmal die Universität, denn Marcus hat eine Zusage der Unfallkasse Thüringen, die letztendlich für alles aufkommt und der Uni das Geld zurückerstattet. Marcus war während seiner Skitour über die Uni versichert und hat nun keine Schwierigkeiten bei der Finanzierung. Generell müssen sich Behinderte an das Sozialamt oder die Krankenkasse wenden, damit ihnen die Arbeitsstelle etwa eines Gebärdensprachdolmetschers bezahlt wird.
Diese stellen die Schnittstelle zwischen Hörenden und Gehörlosen dar. Jana, die als Dolmetscherin an der Uni arbeitet, erklärt, dass Gebärdensprache eine vollkommen eigene Sprache sei. In Vorlesungen steht sie neben dem Dozenten und übersetzt ihrer Kundin, einer gehörlosen Studentin, das Vorgetragene in Gebärden. „Hörgeschädigte haben laut Sozialgesetzbuch Anspruch auf einen Dolmetscher“, berichtet sie. In der Uni genauso wie bei Behörden- oder Arztbesuchen. Eingeschränkt sind gehörlose Studenten trotzdem: „Spontan zu Vorträgen zu gehen ist schwierig.“ Zum einen müsse kurzfristig ein Dolmetscher gefunden werden, zum anderen bestehe die Frage, wer diesen dann bezahlt. Das aus eigener Tasche zu begleichen, kann schnell teuer werden.

Hürden des Alltags

Ihr Einkommen selbstständig aufzubessern ist Studenten mit Behinderung schwer möglich. Ihre Ausgaben dagegen sind umso höher. „Viele Studierende mit Behinderung haben einen günstigen familiären Hintergrund“, bemerkt Götz. Extraausgaben für alternative Fortbewegungsmittel oder Hilfsmittel können folglich von den Eltern getragen werden. Betroffene mit einem finanziell schwächeren Hintergrund sind auf andere Einnahmequellen angewiesen. Für vieles könne man sich an das Sozialamt oder die eigene Krankenkasse wenden, die einen dann an die Reha-Servicestelle der Rentenversicherung oder Vereine wie das „Jenaer Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen“ weiterleitet. Dies erfordert allerdings einigen Aufwand. Viele Studenten mit Behinderung sind jedoch durch ihre Selbstorganisation in der Schulzeit schon auf die komplizierten Strukturen vorbereitet. Zu Beginn ihres Studiums seien diese Betroffenen dann bereits ziemlich selbstständig, stellt Götz fest. Eigeninitiative und Engagement seien für ein erfolgreiches Studieren mit Behinderung Grundvoraussetzung.
Herkömmliche Probleme bergen für die Betroffenen oft noch zusätzliche Tücken. Ist die Wohnungssuche in Jena generell nicht einfach, kann sie für Studenten mit Behinderung noch schwerer sein. Marcus hat dafür ganze fünf Monate gebraucht. Und dabei braucht er nicht mal irgendwelche Besonderheiten in seiner Wohnung, bloß einen einfachen Zugang und genug Platz für den Rollstuhl. Bei der Suche hatte der Sportstudent sich auch eine Wohnung des Studentenwerks angeschaut. „Krankenhausatmosphäre“, fasst er seine Meinung zu den Gegebenheiten zusammen. Alles sei weiß und steril gewesen, außerdem seien gerade so die Standards eingehalten worden. „Eine Waschmaschine im Bad wäre unmöglich zu platzieren, die hätte ich vor die Dusche stellen müssen.“ Auch Michael Götz gibt zu, dass die vereinzelten behindertengerechten Wohnmöglichkeiten des Studentenwerks sehr spärlich genutzt werden.
Dies kann auch daran liegen, dass es in Jena einfach nicht übermäßig viele Studenten mit offensichtlichen Behinderungen gibt. Annett Kretschmer von der allgemeinen Sozialberatung des Studentenwerks kann sich nicht vorstellen, dass ein Student mit einer körperlichen Behinderung oder chronischen Krankheit unbedingt Jena als Studienort auswählen würde. „Das erklärt, dass Ihnen kaum Studenten mit einer sichtbaren Behinderung auffallen. Chronische Krankheiten wie eine Lese-Rechtschreibschwäche oder eben Diabetes sind nicht auf den ersten Blick erkennbar.“ Kretschmer weist darauf hin, dass die Unistadt Jena bei der Vorauswahl mit ihren unzähligen Treppen, Vorsprüngen und Kopfsteinpflasterstraßen wohl für den potentiellen Studenten im Rollstuhl ausscheiden würde.

Die Zukunft im Blick

Barrierefreiheit wird allerdings an allen deutschen Unis angestrebt. Grundlegend dafür sind die UN-Behindertenrechtskonvention und die Empfehlungen der Hochschulrektorenkonferenz. Beide fordern einen diskriminierungsfreien und chancengleichen Zugang zu Hochschulbildung. Die Studentenwerke haben sich vorgenommen herauszufinden, wo Hindernisse und Formen der Benachteiligung für Studenten mit Behinderungen zu finden sind. Dafür läuft bis Ende Juni die Befragung „beeinträchtigt studieren“. Dabei soll beispielsweise auch herausgefunden werden, ob ein Studium für Menschen mit Beeinträchtigung finanziell abgesichert ist.
Letztendlich kommt es jedoch darauf an, was jeder Mensch persönlich daraus macht. Eigeninitiative spielt wohl eine genauso große Rolle wie die richtigen Bedingungen an der Uni und entsprechende Beratungsangebote. Insgesamt ist das Studieren mit einer chronischen Krankheit oder Behinderung anstrengender, fordernder und mit einem größeren Aufwand verbunden. Doch wer wie Marcus kein Selbstmitleid hat, benötigt erst recht kein fremdes Mitleid. Wie anderen Studenten kommt es Marcus auf soziale Kontakte an, ein ausgefülltes Leben neben der Uni und Zufriedenheit. Marcus spricht von seiner Freundin, seiner Familie und dem großen Freundeskreis als zentralen Bezugspunkten. Auf die Frage, was er sich für seine Zukunft vorstellt, reagiert er erstaunt. Der Master sei natürlich das langfristige Ziel. Außerdem hat er durch seinen Unfall ein sicheres Praktikum in der Reha-Abteilung von Borussia Mönchengladbach verpasst, das möchte er unbedingt noch nachholen.

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