Wer ist Schuld an mieser Lehre? Zweimal Polemik (Teil 1)

Der müde Tod oder die zwei Seelen der Studentenschaft

Von Philipp Böhm

Selig sind die Neunzehnjährigen. Eben gerade ihren Schulabschluss in der Tasche, spinnen sie sich ihre Luftschlösser zusammen. Sie ahnen noch nicht, was sie in ihrem ersten Semester erwartet und schlafen deshalb ungestört, träumen Träume von ihrem zukünftigen Studium, von inspirierenden Seminaren, geistreichen Kommilitonen und all den Sachen, an deren Existenz man mit neunzehn noch glaubt. Es ist schön, neunzehn zu sein. Die Ernüchterung kommt aber viel zu bald.

Spätestens nach der zweiten Seminarsitzung löst sich die Vorfreude der naiven Erstsemester auf, die rosige Fassade fällt und enthüllt den tiefgrauen drögen Alltag dahinter: Seminare nach dem Copy-Paste-Prinzip. Das bedeutet wiedergekäute Meinungen, endlos aneinandergereihte lustlose Referate, keine Diskussion, keine Kritik – gähnend gehen wir zugrunde. Ein jeder Student erlebt ihn in hübscher Regelmäßigkeit, mindestens einmal pro Semester: den müden Tod im Anderthalbstundentakt cum tempore. Der Versuch, eine kreative oder zumindest produktive Arbeitsatmosphäre zu schaffen, erscheint schon von vornherein als närrischer Idealismus angesichts der massiven Wand aus Lethargie.

Schuld am Niedergang der Lehre ist neben vielem anderen vor allem der Studiosus selbst. Auch wenn es sich nicht schickt, das in einer Hochschulzeitung zu schreiben, die seit Jahrzehnten für dieses fragwürdige Klientel Partei ergreift – einer muss hier endlich einmal aussprechen, was alle denken: Studenten sind das Letzte, wirklich das Allerletzte. Da könnten junge hochmotivierte, sprich vom Moloch der Hochschule noch nicht erschlagene Dozenten kilometerweit Schlange stehen, um die geistigen Felder der Studentenschaft mit den erlesensten Methoden der Didaktik zu beackern; es würde doch nichts nützen. Grundsätzlich sitzen in Seminare nämlich nur zwei große Gruppen: die Desinteressierten und die Selbstdarsteller. Appelle an ein ausdifferenzierteres Bild der Studentenschaft sind völlig zweckfrei und würden lediglich der Papierverschwendung dienen, also spart sie euch und macht die Augen auf: Es ist so!

Der Desinteressierte zeichnet sich vornehmlich dadurch aus, die erste und wichtigste Lektion des modernen Studierens verinnerlicht zu haben: Augen zu und durch! Was zählt, ist der Schein, respektive das virtuelle Häkchen bei Friedolin. Auf die Frage, wer denn den vorbereitenden Text gelesen habe, reagiert er mit gleichgültigem Schulterzucken. Kritische Einwände kommentiert er mit entnervtem Schnauben. Den Großteil der Seminarzeit über beschäftigt er sich jedoch entweder damit, zurückgelehnt in die Leere zu starren oder aber auf seinem Laptop die neuesten Bildverlinkungen auf Social-Media-Plattformen zu checken. Anzutreffen ist diese Gattung stets in den hinteren Reihen. Den Höhepunkt seiner Beteiligung erlebt man gewöhnlich in den letzten Sitzungen vor der Prüfung, wenn er aus seinem Halbschlaf erwacht und eine genaue prüfungsrelevante Zusammenfassung des Stoffes innerhalb von zwanzig Minuten wünscht.
Völlig entgegengesetzt, aber nicht minder nervtötend präsentiert sich der Selbstdarsteller. Er hat das alte Prinzip “Sehen und gesehen werden” an die spezifische Seminarsituation angepasst: “Hören und gehört werden” mit besonderer Betonung auf dem zweiten Teil. Eine Sitzung gilt nur dann als sinnvoll investierte Lebenszeit, wenn er in mehreren ausschweifenden Monologen die versammelte Hörerschaft auf seine Eloquenz und Belesenheit hinweisen konnte. Ein Satz, der nicht mindestens drei Nebensätze und fünf Fremdwörter enthält, ist definitiv unter seiner Würde. Da nimmt er es auch gerne in Kauf, dieses Konstrukt mit zehn „Ähs” und drei unfreiwilligen Kunstpausen zu einer Qual für den Zuhörer zu machen. Nichts beitragen zu können oder die Autoren, durch subtiles “Name-dropping” in den eigenen Beitrag eingeflochten, nicht einmal im Ansatz verstanden zu haben, hindert ihn in keinster Weise daran, nicht die Klappe zu halten. Ganz im Gegenteil: Er schiebt seinen erhobenen Finger so aufdringlich in das Blickfeld des Dozenten, dass man nur noch das grundschultypische Schnipsen und Stöhnen zum Zwecke des Aufmerksamkeit-Erhaschens vermisst. Kurzum: Auch er ist einer angenehmen Seminaratmosphäre in höchstem Maße abträglich.
Zwischen diesen beiden Fronten eingekeilt, bleibt dem interessierten kritischen Studenten (irgendwo soll es ihn tatsächlich geben) nur noch die Wahl zwischen Exmatrikulation und Anpassung an ein studentisches Milieu, das Forderungen des Arbeitsmarktes schon längst zu seinem kategorischen Imperativ gemacht hat: Was zählt, sind die Note auf dem Papier und das nach außen vermittelte Bild – nichts anderes.


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