Lass dein Herz sprechen

“LJOD. Das Eis” im Theaterhaus Jena

Von Jana Felgenhauer

LJOD 3

Sebastian Thiers und Saskia Taeger sind in „Ljod“ mit Eishammern auf der Suche nach Seelenverwandten.                                             Foto: Joachim Dette

In einem Container auf dem Theatervorplatz sitzen die Zuschauer in Socken auf einem Podest, weich gebettet auf Zottelteppichen und dicht aneinander gekuschelt. Gegenüber befindet sich die Bühne, hinter ihr Fenster, die den Blick auf in Dunkelheit gehüllte Schneemassen freigeben. Eine Alpen-Fototapete wird von grellem Licht angestrahlt, aus einer Ecke des Raumes geht eine Berglandschaft in die Bühne über. In ihrem Tal steht eine Miniaturwelt mit kleinen Häuschen, Bäumen und einer Modelleisenbahn. Der Besucher befindet sich inmitten dieser heilen Welt, bis das Licht ausgeht.

Dramatische Musik erklingt. Ein weißer Lieferwagen fährt vor dem Fenster entlang, Gestalten in schwarzen Mänteln steigen aus, ein Mann mit einem Sack über dem Kopf versucht vor ihnen zu fliehen. Es fallen Schüsse. Das Entführungsopfer wird gefesselt, auf die Motorhaube des Autos gedrückt und sein Brustkorb mit einem Hammer mit Eiskopf traktiert.

Diese grausame Szene eröffnet das Stück „LJOD. Das Eis“, basierend auf dem ersten Teil der Eis-Trilogie des russischen Gegenwartsautors Vladimir Sorokin. Eine abgefahrene Mischung aus Gesellschaftskritik, Erlösungsfantasie und Science-Fiction. Im Mittelpunkt steht eine sektenartige Bruderschaft, die mit gnadenlosen Methoden nach ihresgleichen sucht, wie auch nach dem Sinn des Lebens und einer Form von Liebe fernab der profanen irdischen. Die zentralen Fragen des Stückes sind: Kann in dieser Welt überhaupt noch Gemeinschaft hergestellt werden und mit welchen Mitteln?

Im Deportationszug

Zurück im Container in der warmen Flokatihöhle sitzen die vier Darsteller Mohamed Achour, Anne Haug, Saskia Taeger und Sebastian Thiers in ihren weißen Kleidern und blonden Perücken als Fremdkörper zwischen Alpenpanorama und Modelleisenbahn. Während ein Mädchen (Hannah Heinzelmann) die Geschichte eines russischen Dorfes unter deutscher Besetzung wiedergibt, stellen die Schauspieler das Erzählte mit kleinen Figuren in der Plastikwelt nach. Auch wenn im Publikum noch vereinzelt Lacher auftauchen: Die friedliche Atmosphäre trügt.

Gegen Ende wird das Dorf von den Nazis abgebrannt und die Jugendlichen werden deportiert. Es folgt eine qualvolle Beschreibung der Bedingungen in den engen Zugabteilen. Auf die Leinwand gegenüber projiziert eine Kamera, die an der Modelleisenbahn befestigt ist, einen Film, der die Zugfahrt durch die Landschaft dokumentiert. Der Zuschauer befindet sich nun plötzlich mitten drin in der Deportation, fährt mit dem Zug bis zu den Toren des KZ in Auschwitz und findet sich kurz darauf bei der Selektion der Häftlinge selbst als Gefangener wieder.

Die Aufnahme in die Sekte

Nach der Auswahl im KZ, die über Leben und Tod der Jugendlichen des russischen Dorfes entscheidet, führen SS-Offiziere ein Mädchen in den Wald und misshandeln es mit einem Hammer aus Eis. Immer wieder schlagen sie ihr den Eisklotz gegen die Brust und schreien mehrmals: „Lass dein Herz sprechen!“ Diese verwirrende Szene lässt die Geschichte nun von Realität in Fiktion übergehen. Das Eis, auch „LJOD“ genannt, ist ein kosmischer Stoff, mit dessen Hilfe entschieden werden soll, wem ein Leben im Licht vergönnt ist. Das Herz des Mädchens im Wald beginnt tatsächlich mit den anderen Herzen zu sprechen, es „gluckst“. Die Aufnahme in die Bruderschaft ist damit erfolgt.

Das Leben in dieser neuen Gemeinschaft wird aus der Sicht des Mädchens, welches jetzt „Ram“ heißt, beschrieben. Das Gefühl, wenn die Herzen miteinander sprechen, sei überwältigender und tiefer als alle Empfindungen zuvor. Ein Ritual des Kennenlernens vollzieht sich, indem sich die Sektenmitglieder tagelang aufeinander legen, um das Schlagen des jeweils anderen Herzens zu spüren. Um die Bruderschaft vollzählig zu machen, müssen in den Tiefen Russlands nun 23.000 verwandte Seelen gefunden werden, meist blond und blauäugig wie in der Naziideologie, deren Sorokin sich in seinem Roman bedient. Die übrigen Menschen, deren Herzen nicht sprechen können, gilt es zu beseitigen. Auch das Publikum wird in die Sektengemeinschaft aufgenommen. Jeder Besucher bekommt einen neuen Namen, eine feste Umarmung und Rohkost zum Knabbern.

Regisseur Jan Christoph Gockel schafft es in seinem Jenaer Debüt, das abstruse Werk Sorokins in eine spielbare Fassung zu bringen. Die unübliche Situation im Container bindet das Publikum in das Bühnenbild mit ein und lässt es intensiver an dem Stück teilhaben. „LJOD. Das Eis“ ist eine dramaturgische Irrfahrt von mit Eishammern gefolterten Menschen und brutalen Verhören bis hin zu Herzen, die so etwas wie Sex miteinander haben.

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