Bloß keine Sklaventexte

Die Jenaer Literaturszene in den 70er und 80er Jahren

Von Uli Sauer

Lutz Rathenow (links) Anfang der 80er Jahre zu Besuch bei der Schriftstellerin Katja Havemann in Grünheide. Hier im Gespräch mit dem Bürgerrechtler Roland Jahn.
Privatarchiv: Lutz Rathenow

Jena zu Beginn der 70er Jahre: Die Unterschiede zwischen den Literaturzentren konnten größer nicht sein. In dieser Zeit bildeten sich zwei Institutionen heraus, in denen literarisch ambitionierte Jugendliche ihr Talent entfalten konnten oder sollten. Auf der einen Seite stand der oppositionelle Arbeitskreis für Literatur, der 1973 aus den privaten „Freitee-Treffen“ Lutz Rathenows hervorging und ganz offiziell in das neugebaute Kulturzentrum Neulobeda verlegt werden konnte. Die andere Seite bildete das Literaturzentrum unter der Schirmherrschaft des Kulturministeriums für den Bezirk Gera. Hier wurden junge Schriftsteller sozialistisch erzogen und auf Linie eingeschworen. Jede Form von Kritik wurde unterbunden.
Trotz dieser Repressionen schien die Zeit für Gegenbewegungen zu Beginn der 70er Jahre günstig zu sein. Auf der Regierungsebene gab es einen Wechsel, Erich Honecker kam an die Macht. Es war eine Zeit der relativen Entspannung. 1973 wurden in Ostberlin die Weltfestspiele der Jugend ausgerichtet, auf denen sich die DDR-Regierung betont offen zeigen wollte.
In dieser Phase gründeten Lutz Rathenow, Udo Scheer und andere Schriftsteller den Arbeitskreis Literatur. Rathenow war Psychologiestudent an der Uni Jena, Scheer wollte eigentlich Physik in Ilmenau studieren, musste aber nach Jena gehen. Kurz nach Gründung des Arbeitskreises arbeitete er in Hermsdorf an einem Projekt für den Konsumgüterstabsplan. Sie verstanden sich ausdrücklich als Opposition und wollten keine „Sklaventexte für den Staat schreiben“. In ihrer Lyrik und Prosa übten die jungen Autoren offene und prägnante Kritik. Der Arbeitskreis bestand aus einem festen Kern von 15 Autoren im Alter von 18 bis 22 Jahren, die sich regelmäßig in Neulobeda trafen. „Schreibende in unserem Kreis waren Lehrlinge und Studenten, die sich immer wieder die Frage stellten: Wie stellt sich die DDR dar und was nehmen wir wirklich wahr?“, berichtet Udo Scheer. Dabei entwickelte sich in Ansätzen eine literarische Subkultur in Jena, die im Arbeitskreis alle sozialen Schichten vereinte, „eine Besonderheit für DDR-Verhältnisse“, so Lutz Rathenow, „die DDR-Führung wollte alles einteilen, um so die Kreise besser überwachen zu können.“ Er vermutet auch, dass aufgrund dieser Entwicklung das Literaturzentrum Gera gegründet wurde, um die Autoren besser kontrollieren zu können.
Anfangs gingen die Mitglieder des Arbeitskreises noch ins Literaturzentrum, in der Hoffnung, es umzuformen, die Leitung zu übernehmen und die dort tätigen Autoren kritischer zu stimmen. Doch das Literaturzentrum wurde von Inoffiziellen Mitarbeitern der Stasi nach zentralen Vorgaben gesteuert und so scheiterte das Vorhaben der führenden Mitglieder des Arbeitskreises.

Kritische Positionen

Die widerstandswilligen Autoren nahmen sich den Oppositionellen Jürgen Fuchs zum Vorbild, der ihnen auch hilfreich zur Seite stand und ab und zu im Kreis tätig war. Er hatte den Stil der Verknappung perfektioniert und lehnte die Ich-Bezogenheit in Gedichten, den vorherrschenden schwülstig-breiten Stil und Themen wie das Alltagsleben in der DDR ab. Stattdessen bearbeiteten die Autoren politische Themen und positionierten sich kritisch zu ihnen. Deshalb waren auch Satiren eine beliebte Form, um sich auszudrücken.
In den wöchentlich stattfindenden Lesungen im Kulturzentrum Neulobeda stellten die Jugendlichen Autoren aus aller Welt und deren Werke vor: „Das waren vor allem selbstkritische junge Leute, die sich an der politischen Situation im Land rieben“, sagt Udo Scheer. „Wir fragten uns: ‚Wie setzten namhafte Autoren das um und wie können wir das machen?“
Neben den regelmäßigen Treffen veranstaltete der Arbeitskreis auch Lesungen, zu denen die Mitglieder ihre eigenen Texte mitbrachten, aber auch Liedermacher und andere Schriftsteller wie Bettina Wegener und Jürgen Fuchs einluden.

Lesung als Ventil

„Die Poetenbewegung breitete sich weiter aus. Dadurch bekamen wir rasch Kontakt zu bekannten Dichtern. Jena sollte zu einem Zentrum für Literatur werden“, resümiert Rathenow. An manchen Abenden kamen bis zu 100 junge Leute. Scheer: „Es war nicht schwierig, so viele Menschen zusammenzubekommen. Die Mund-zu-Mund-Propaganda in den Lehrlings- und Studentenwohnheimen funktionierte gut. Es gab ein großes Interesse an unserer Literatur. Besonders gut kamen ironische Gedichte und freche Satiren an.
Nach jeder Veranstaltung fanden Gespräche mit dem Publikum zu den Texten statt: „Als Gruppe diskutierten wir über das Gehörte und brachten unsere eigenen Erfahrungen ein.“ Jeder konnte etwas zu Themen wie Wohnungsbau oder Armee beitragen. Die Plattenbauten wurden damals als Gettos empfunden, als „Schließfächer für Arbeiter“ bezeichnet, von der Regierung jedoch als großer Erfolg dargestellt. Auch der erfahrene Drill bei der Nationalen Volksarmee (NVA) und der kurze Heimaturlaub im Grundwehrdienst beschäftigten die Jugendlichen. „Die Lesungen waren ein Ventil“, erklärt Scheer.
Außerhalb der jungen Bevölkerung Jenas erfuhr der Arbeitskreis keine Resonanz. Erst als das Ministerium für Staatssicherheit sich einschaltete, saßen auch Universitätsmitarbeiter in den Lesungen und „machten sich eifrig Notizen, ohne sich an den Diskussionen zu beteiligen“, so Udo Scheer.

Operation Pegasus

1974 kam es zum Eklat zwischen dem Staatsapparat und dem Arbeitskreis Literatur. Als einzige Schriftsteller aus dem Bezirk Gera durften fünf Mitglieder des Arbeitskreises zum Poetenseminar nach Schwerin reisen. Dort sang einer der Männer, Bernd Markowsky, zwei Kinderlieder von Wolf Biermann. Biermann hatte seit 1965 Auftrittsverbot in der DDR. Daraufhin folgte die Forderung seitens der FDJ, sich von Markowsky zu distanzieren. Statt der Forderung nachzukommen, reiste die Gruppe geschlossen ab. Das Ministerium für Staatssicherheit nahm die Arbeit gegen den Jenenser Kreis auf und legte die Akte „Operation Pegasus“ an.
Die jungen Autoren des Literaturkreises sollten voneinander isoliert und verunsichert werden. Das gelang den Stasi-Mitarbeitern auch teilweise.
In den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit finden sich Vorwürfe, die von Kontakten in die Bundesrepublik Deutschland bis zu staatsfeindlicher Hetze reichen. Das genügte, um das Gründungsmitglied Lutz Rathenow kurz vor seinem Studienabschluss zu exmatrikulieren, weitere Mitglieder in die Nationale Volksarmee einzuberufen und den Arbeitskreis verbieten zu wollen. Dem kam dieser aber zum Ärger der Staatsmitarbeiter zuvor und so löste er sich im Frühjahr 1975 selbst auf.

Das Leben danach

Nach 1975 verlagerten sich die Aktivitäten des aufgelösten Arbeitskreises in die Junge Gemeinde (JG) Stadtmitte. Dort hatte der Jugenddiakon Thomas Auerbach die „Offene Arbeit“ gegründet. Hier tauschten junge Leute ihre kritischen Texte aus, organisierten Lesungen, Theateraufführungen und vieles mehr. Sie blieben weiterhin im Widerstand verankert.
Die JG bot eine Plattform für alle Oppositionellen, „denen der staatliche Kulturbetrieb das Podium entzogen hatte“, so Scheer in seinem Aufsatz „Gegenkultur – Der Jenaer Arbeitskreis Literatur“.
Die Mitglieder durften ihre literarischen Ergebnisse während der verbleibenden DDR-Zeit nicht veröffentlichen. Lutz Rathenow ließ Gedichte illegal im Betrieb seines Vaters vervielfältigen. Er verschickte sie an Zeitschriften und verteilte die wenigen kopierten Exemplare an ein paar Fremde in Jena. „So lernte ich auch Jürgen Fuchs kennen, dessen Lyrik ich schon gelesen hatte“, erklärt Rathenow.
Erst nach der Wende konnten Mitglieder des Arbeitskreises Literatur ihre Werke veröffentlichen und als freiberufliche Schriftsteller tätig sein.
Udo Scheer ging weiterhin in das Jenenser Literaturzentrum: „Ich habe versucht, nicht alle Brücken zu offiziellen Literaturinstitutionen abzubrechen.“ Er hatte immer noch die Hoffnung, als Autor in der DDR tätig sein zu können. Außerdem wollte er herausfinden, wie der Staat gegen junge Schriftsteller agierte. „Für mich war das auch ein diplomatischer Akt, um mich nicht weiter zu isolieren.“
Dennoch gelang es der Stasi bis 1989, den Schriftsteller persönlich zu verunsichern. Er durfte nicht veröffentlichen und sein Talent wurde in Frage gestellt.
Obwohl er weiter versuchen wollte Widersprüche aufzuzeigen, zog er sich doch nach und nach zurück, schrieb 1988/1989 nur noch visuelle Poesie (Spiel mit Buchstaben) und produzierte nach 1989 überhaupt keine Lyrik mehr. Nach der politischen Wende wurde er freier Schriftsteller.

Am 8. Juni wird die Ausstellung „Bewegung von Ost nach OstWest. Fotos aus vier Jahrzehnten“ von Lutz Rathenow und Harald Hauswald in der Goethe-Galerie eröffnet. An dem Tag findet auch eine Fragestunde unter der Leitung von Dr. Henning Pietzsch von der Geschichtswerkstatt statt. Am 10. und 17. Juni laden Rathenow und Hauswald von 12 bis 17 Uhr zu Führungen in kleiner Runde ein. Die neuen und alten Fotos Hauswalds werden bis zum 20. Juni zu sehen sein.

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