Knockout im Studium

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Ursachen und Folgen studentischen Leistungsdrucks

Von Philipp Böhm, Theresa Angelis, Katrin Hesse

Ehe man sich versieht, ist einem die Uni über den Kopf gewachsen. Foto: Matthias Benkenstein

“Die Thulb wurde mein zweites Zuhause“, sagt Evelyn Meier, „man steht unter ständigem Druck, versucht die Arbeit hinzukriegen, aber die Uhr tickt.“ Die 22-Jährige studiert Kunstgeschichte und Interkulturelle Wirtschaftskommunikation auf Bachelor. Das letzte Semester avancierte für sie zur Belastungsprobe: „Ich musste vier Hausarbeiten gleichzeitig schreiben. Zeitlich war das nicht machbar, da ich erst auf die Ergebnisse der Klausuren und Essays warten musste.“ Durch den immensen Leistungsdruck während dieser Zeit ist sie auch körperlich krank geworden. Geändert hat sich im neuen Semester wenig. Erneut stehen ihr genauso viele Hausarbeiten bevor. Dazu kommt das übliche Lesepensum für die wöchentlichen Seminare.

Vielen Studenten ergeht es ähnlich wie Evelyn. Sie leiden unter dem Leistungsdruck, wissen aber nicht, wie sie damit umgehen sollen. Uwe Köppe von der psychosozialen Beratungsstelle des Studentenwerks Thüringen berichtet, dass die Zahl der Studenten in Jena, die eine Beratung wünschen, seit Jahren steigt: im letzten Jahr von 633 auf 784. Ein „Ende der erheblichen Steigerung“ sei nicht abzusehen. Laut einer Studie des Studentenwerks Thüringen haben etwa zehn Prozent aller Studenten im Laufe ihres Studiums das Bedürfnis nach einer Beratung. Davon nehmen aber lediglich zwei bis drei Prozent das Angebot auch wahr. Eine Befragung von Studenten der Freien Universität Berlin ergab sogar, dass nahezu drei Viertel der Bachelor-Studenten über zu starken Leistungsdruck und zu schwere Klausuren klagen. Es scheint so, als sei für viele das Studium längst nicht mehr „ihre Zeit“, in der sie sich selbst finden und ausleben können.

Zu den meistgenannten Themen in der Beratung zählt Köppe unter anderem Probleme mit dem Studienabschluss und Selbstwertprobleme. Viele Studenten plagen sich auch mit Zukunftsängsten, der Sorge um einen späteren Arbeitsplatz. Dazu kommt für Bachelorstudenten der Zwang, das Studium in sechs Semestern abzuschließen. Wer Bafög bezieht, bekommt dieses nur während der Regelstudienzeit. Danach heißt es: arbeiten gehen oder womöglich einen Studienkredit aufnehmen; beides Möglichkeiten, die auch erheblich zu Stress und Druck beitragen. Mit diesem Problem sieht sich auch Evelyn Meier konfrontiert. Weil sie ihr Nebenfach wechselte, wird sie die vorgeschriebenen sechs Semester nicht einhalten können. Sie fühlt sich als Bachelor-Studentin benachteiligt, für sie ist das System „noch nicht reif genug für die Umsetzung.“ Ihr Neid gilt den Magistern, die noch ohne solchen starken Zeitdruck studieren können.

Auch Köppe sieht die Veränderungen des Zeitplans im Studium als problematisch an: „Man muss heute so schnell wie möglich studieren. Diesen vermittelten Wert halte ich für völlig absurd.“ Durch das beschleunigte Studieren würden andere Bereiche stark vernachlässigt: „Gewisse Formen der Persönlichkeitsentwicklung finden dann nicht statt.“ Freiräume für selbstbestimmtes Lernen und Arbeiten fallen oftmals weg, Studenten konzentrieren sich stattdessen auf die zu erbringenden Leistungen und schauen nicht mehr nach rechts und links. Dabei sollte die Zeit des Studiums auch eine Zeit sein, in der man verschiedene Möglichkeiten ausprobiert; seien es Themengebiete innerhalb des eigenen Fachs, Jobs oder auch Studienfächer. Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Jena, der nicht namentlich genannt werden möchte, meint dazu: „Es wird alles schneller. Nicht nur das Kapital und die Produktion wachsen schneller, das Wissen muss ebenso schnell aufgenommen werden. Wenn man seinen Bachelor dann nach sechs Semestern in der Tasche hat, muss man sich fragen: Was habe ich jetzt eigentlich für mich gelernt?“

Des Öfteren leiden auch die sozialen Kontakte unter der Belastung. Wer dauernd die nächste Prüfung oder Hausarbeit im Kopf hat, findet womöglich keine Zeit und Ruhe, Beziehungen zu Kommilitonen aufzubauen. Nur ist dann im Falle von Problemen mit dem Studium auch kein soziales Netz vorhanden, das den Einzelnen auffängt. Gerade unter Stress ließen Menschen genau das weg, was ihnen eigentlich in dieser Situation am nützlichsten wäre und am besten helfen könnte. Dazu zählen auch sportliche Aktivitäten, die einen wichtigen Ausgleich zum akademischen Alltag bieten können, aber eben auch Zeit kosten.

Erschwerend kommt hinzu, dass von vielen Seiten der Eindruck erweckt wird, man müsste vor allem für sich selbst arbeiten und lernen. Ängste um einen späteren Arbeitsplatz führen dazu, dass Studenten sich in ständigem Vergleich zu ihren Kommilitonen sehen: Welche Praktika haben andere gemacht? Welche Noten haben sie? Wer hat im Ausland studiert? Solche Vergleiche führen dazu, ein ungesundes Konkurrenzdenken zu erzeugen, meint Köppe. Häufig sähe man nämlich nur die eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten: „Gesund ist der Vergleich, solange ich mich auf meine Stärken besinne und den Vergleich nutze, um mich weiterzuentwickeln.“

Der gewachsene Zeitdruck spiegelt sich auch direkt in den Beratungsgesprächen wider: „War es früher in den Beratungen noch möglich, eher Tempo rauszunehmen, kommen Ratsuchende jetzt mit dem Anliegen, so schnell wie möglich Lösungen zu finden, um sich dann dem Studium wieder mit ganzer Kraft widmen zu können“, so Köppe. Manche bräuchten nur eine kleine Bestätigung, dass ihr gewählter Weg der richtige ist.

Auch Prüfungen haben mit den neuen Abschlüssen einen völlig neuen Stellenwert erhalten: Jede Note zählt. Dies wirkt sich natürlich auf Studenten, die ohnehin unter Prüfungsangst leiden, noch stärker aus. Die Angst zu versagen, einen schlechten Abschluss zu bekommen und damit auch schlechtere Chancen auf dem Berufsmarkt zu haben, wächst. In einer deutschlandweiten Studie der Hochschul-Informations-System GmbH (HIS) über Studienabbrüche werden primär Leistungsprobleme und die finanzielle Situation als Gründe genannt. Wer nicht wegen des Drucks aufgibt, kann sich aufgrund des wegbrechenden Bafögs irgendwann vielleicht die Wohnung nicht mehr leisten.

Die Wahrnehmung des Hochschulstudiums und das eigentliche Studium sind im Wandel. Das freie und weitestgehend unbeschwerte Lernen und Forschen gehört wohl endgültig der Vergangenheit an. Gefragt sind schnell ausgebildete Arbeitskräfte für die Wirtschaft. Fragen wie „Was mache ich hier überhaupt und warum mache ich das?“ gehören anscheinend nicht mehr in den Modulkatalog. Wer sein Pensum erfüllt, ohne lange darüber nachzudenken, ist im Studium erfolgreich. Dass bei einer solchen Ausbildung viele Studenten auf der Strecke bleiben, ist Begleiteffekt des Prozesses.

Auch die Solidarität unter Studenten wird durch solche Veränderungen immens erschwert, was man an den lange ausbleibenden Protesten gegen die neuen Formen der Hochschulbildung sieht. Unzufrieden sind viele, doch für Widerstand hat dank Anwesenheitslisten, starren Terminen und Fristen niemand Zeit. Wenn ich alles daran setzen muss, in der Regelstudienzeit fertig zu werden, und nebenher noch drei Praktika für den Lebenslauf mache, warum sollte ich mich dann zusammen mit meinen „Konkurrenten“ für ein besseres Bildungssystem einsetzen?

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