„Der Pianist ist tot“

 Frankenstein eröffnet die neue Spielzeit des Theaterhauses

von Johannes Weiß

Huhauahahha. Ich habe Leben erschaffen.FOTO:Joachim Dette

Kühle Abendluft weht über den verlassenen Theatervorplatz auf die Zuschauerränge; Autos, Ampeln, Häuser, sogar der Turm in seiner ganzen Hässlichkeit sind zu erkennen. Die Lichter der Kleinstadt scheinen auf die Bühne, wo sich ein Mensch und ein Monster in eine Decke gehüllt haben und ihre letzten Minuten mit einem leisen Abschiedslied füllen.
Fast könnte so etwas wie Wehmut aufkommen, hätte man sich in den vergangenen zwei Stunden solche ernsthaften Gefühle nicht schon längst abgewöhnt.
„Schmutzige Schöpfung – Making of Frankenstein“ lautet der Titel des obskuren Theaterstücks, mit dessen Uraufführung das Theaterhaus Jena am 16. Oktober die neue Spielzeit mit dem vielsagenden Motto „Freikörperkulturen“ eingeläutet hat. Der Autor Thomas Melle versetzt die Frankenstein-Handlung ins 21. Jahrhundert und lockert sie ironisch auf – eine Richtung, die auch die Inszenierung des Teams um die junge Regisseurin Alice Buddeberg einschlägt.

Die Hauptfigur Viktor erscheint hier als moderner Faust, der „Gentechnologie, Eugenik, Historik, Bionik“ studiert hat und nun mit der Erschaffung eines künstlichen Menschen seine Forschungen vollenden will. Julian Hackenberg mimt im Morgenmantel diesen selbsternannten „Posthumanisten“, der keine Unterschiede mehr zwischen natürlichen und künstlichen Menschen kennt und sich auch von seinem biederen Freund Henry (Ralph Jung) keineswegs von ebenso rationalen wie manischen Fantasien abbringen läßt.
Zur Szenerie gesellt sich noch Viktors Mutter Carolin, die die im Stück zentralen Gegensätze von Materie und Geist sowie Natur und Kunst aus einer weiteren Perspektive beleuchtet: Sie bezeichnet ihren Körper als „Feind“ und tritt den Alterungsprozessen mit dem Besuch beim „Chirurgen“ entgegen. Unterstützt von der souveränen Darstellung Zoe Hutmachers gewinnt die Figur im Vergleich zur Romanvorlage Mary Shelleys ein eigenständiges Profil – ebenso wie Viktors Braut Betty (Renate Regel), die ihrem Lebensekel unmissverständlich Ausdruck verleiht, während sie sich ganz in Schwarz auf der Bühne räkelt. Genauer gesagt auf einer jener vielen spitz zulaufenden Flächen, die entfernt an eine geborstene Eisdecke à la Caspar David Friedrich erinnern und damit wiederum einen Bogen zu der in der Arktis spielenden Rahmenhandlung von Shelleys „Frankenstein“ schlagen.
In der Tat bleiben die gothic novel aus dem Jahr 1818 sowie die ihr folgende Tradition von Horrorfilmen die festen Bezugspunkte, von denen sich Melle und Buddeberg allerdings auch immer wieder ironisch absetzen. Nachdem Viktor sein Geschöpf mit zahlreichen Elektroschocks zum Leben erweckt und unter dem Eindruck des unvorteilhaften Erscheinungsbildes kurz darauf verstoßen hat, steht das Monster mit einer Zigarette vor den Zuschauern und sinniert über seine eigene Rolle. Der humoristische Effekt verstärkt sich durch Kai Meyers eindrucksvolle Demonstration, dass sich Rauchen und schnelles Sprechen nicht ausschließen müssen.
Die Realitätsebenen werden wild durcheinanderwirbelt, und bezeichnenderweise ist das erste Opfer des Monsters der abseits des Geschehens am Elektro-Klavier sitzende „Pianist“ Stefan Paul Goetsch, der doch eigentlich nur für die Hintergrundmusik zuständig sein sollte. Die affektierten Klageschreie der restlichen Beteiligten lassen nicht lange auf sich warten: „Der Pianist ist tot“, „Mein Freund, der Pianist“ – es fehlt nur noch der Ausruf „ein Klavier, ein Klavier“.
Das ohnehin schon vorhandene komische Potential der Handlung wird durch das ständige Spiel von Fiktion und Wirklichkeit noch weiter vertieft. Die Figuren fallen des Öfteren aus ihrer Rolle und sprechen plötzlich als Schauspieler das Publikum an. Das Bühnengeschehen entlarvt sich selbst immer wieder als Arbeitsprozess an einem Filmset – besonders prägnant in einer durchaus unterhaltsamen Szene, in der Monsterdarsteller Kai Meyer einen Tobsuchtsanfall mit wörtlichen Klaus-Kinski-Zitaten nachstellt und die Kollegen als „dumme Sau“ und „Arschloch“ bezeichnet.
Am Ende eskaliert die Situation vollends: Nachdem Betty drehbuchgemäß erwürgt worden ist und die anderen Figuren ebenso drehbuchgemäß ihren Tod beklagt haben, bleibt die Darstellerin leblos auf dem Boden liegen und zeigt somit, dass die Identifikation des Schauspielers mit seiner Monster-Rolle nun doch etwas zu weit gegangen ist. An dieser Stelle öffnet sich die Hinterseite der Bühne, und der vertraute Anblick des abendlichen Jena zieht nun auch den Zuschauer in das verwirrende Spiel von Wirklichkeit und Fantasie hinein.
Alles in allem eine gelungene Inszenierung eines geistreichen und selbstironischen Theaterstücks, das die Messlatte für die kommenden Produktionen dieser Spielzeit hoch legt.
Zur Beruhigung sei außerdem angemerkt, dass sich die Schauspieltruppe ohne Realitätsverlust und bei bester Gesundheit dem reichlichen Applaus des Premierenpublikums stellen konnte.

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