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Kunst in der Filterblase

Ist Poetry Slam noch zeitgemäß? Die zwei Bühnenprofis Friedrich Herrmann und Stefanie Menschner wissen es.

von Hanna Seidel

Bühnenpoesie für Bildungspublikum? Symbolbild: Pixabay

Er streicht sich die verwuschelten Haare zurück und kokettiert über seine eigenen Unzulänglichkeiten. Friedrich Herrmann ist der Posterboy des Thüringer Poetry Slams. „Ich bin, wenn man so will, gescheiterter Lehrer, weil ich schon seit drei Jahren auf einem Umweg feststecke.“ Der Umweg nennt sich Poetry Slam. Statt im Klassenzimmer steht er regelmäßig auf Bühnen im deutschsprachigen Raum, besitzt eine Bahncard100 und ist offiziell freischaffender Künstler. Friedrich ist Veranstalter, tritt selbst erfolgreich auf, gibt Workshops und moderiert.

Seit dem Hype um Julia Engelmann haben sich Poetry Slammer einen festen Platz in der Kulturszene erarbeitet. Friedrich beschreibt das Besondere an Poetry-Slam-Texten: „Man zeigt anderen seine authentische Perspektive auf die Welt. Es ist ein schöner Moment, sich im anderen wiederzuerkennen. Das macht mir die Erfahrung, Mensch zu sein, irgendwie erträglicher.“ Man werde aber auch mit anderen Meinungen konfrontiert: „Da, wo sich große Gegensätze begegnen, hat man die spannendsten Künstler.“ Friedrichs „Bühnenpoesie“ schreibt er im Hinblick auf die jeweilige Vortragssituation und orientiert sich dabei nicht nur an einem Bildungspublikum. Das kommt gut an und hat für das gesprochene Wort eine Publikumsstärke geschaffen, von der die klassische Lyrikszene nur träumen kann.

Warum klingt Poetry Slam dann häufig so ähnlich? Jeder kennt die witzigen Geschichten über WGs und die überbetonten Zeilenumbrüche der Lass-mal-unsere-Träume-leben-Literatur, die in Julia Engelmann ihren Höhepunkt feierte. Friedrich versteht nicht, warum diese Art popsongähnlicher Wohlfühltexte so gut ankommt. Vielleicht führt der Wettbewerb zum Versuch, Texte mit einem Massengeschmack kompatibel zu machen. „Dieser Vorwurf gilt aber der Person und nicht dem Format Poetry Slam. Es ist wie Wikipedia: Jeder kann machen, was er will.“
Nicht nur den Inhalten fehlt es an Diversität. Die Szene setze sich viel mit Gender Equality und Inklusion auseinander, „ist aber vor allem weiß und mittelständisch“, meint Friedrich. Er wünscht sich mehr Teilnehmer mit einem anderen Zugang zur deutschen Sprache, Mehrsprachigkeit, andere Erfahrungshorizonte, die „die gutbürgerlichen Gymnasiasten, die sich über offene Listen anmelden“, nicht haben. Trotz der großen feministischen Bewegung gibt es auch wenige Frauen im Thüringer Poetry Slam. Darauf versucht Friedrich als Veranstalter aber zu achten. „Wir wollen nicht nur die Szene abbilden, wie sie ist, sondern auch, wie wir wollen, dass sie sich entwickelt.“

Stefanie Menschner ist nur durch Zufall in den Poetry Slam reingerutscht und hat einen schnellen Aufstieg hinter sich. Nach nur einem Jahr darf sie als eine von zwei Thüringern zu den deutschen Meisterschaften im Poetry Slam fahren. Auch sie ist ratlos, warum weniger Frauen mitmachen. „Ich höre oft, dass es wenig Frauen gibt, die wirklich witzige Texte schreiben. Viele haben sehr tiefsinnige, von der Stimmung her depressiv anmutende Texte, die ich teilweise richtig gut finde, aber ein großer Teil des Publikums will sich auch unterhalten fühlen.“ Viele scheinen sich durch persönliche Texte auch Gewinnchancen im Wettbewerb auszurechnen. Friedrich nennt es „Erpressertexte“, wenn man mit einer rührseligen Geschichte, die gar nicht die eigene ist, auf gute Bewertungen hofft. Stefanie findet: „Es gibt ja auch Leute, die über ihre Depressionen schreiben und für die das eine Bewältigung ist. Ich würde so etwas nicht schreiben, weil ich das nicht bewerten lassen möchte.“ Ob diese Erfahrungstexte nun der Realität entsprechen oder nicht: Die Lebenswelten gleichen sich, man kommt nicht aus seiner Filterblase heraus.

Die Kritik ist der Szene bekannt und wird in gemeinsamen Internetforen kontrovers diskutiert, man ist selbstreflektiert und bemüht sich, eine positive Atmosphäre für alle zu schaffen. Hoffentlich wird man in naher Zukunft die Veränderungen sehen können.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Ehrlich

    Ja, klar ist das zeitgemäß. Nur eben Bewertungen und Wettbewerbe tendieren dazu, dass sich Kompatibles eher durchsetzt. War gerade in Eisenach zum Jahresend-Slam. Es war die Vielfalt, die gewonnenen hat, nicht nur der Gewinner…

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