Stolz und Vorurteil

Kaum ein Stadtteil prägt das Außenbild von Jena so sehr wie Lobeda. Von der Autobahn gut sichtbar, können sich Autofahrer schnell ein Urteil bilden. Meist ein schlechtes. Andere leben seit 50 Jahren in dem Stadtteil, der einst beliebt war, über die Wiedervereinigung stürzte und heute mit Vorurteilen kämpft. Ein Porträt.

Von Tarek Barkouni

Es ist diese verfluchte Autobahn. Sie ist schuld am Bild Jenas – am Bild Lobedas. Etwa drei Minuten kann man von dort aus einen Blick auf die Stadt werfen. Graue Betonklötze, neben grauen Betonklötzen, neben grauen Betonklötzen. Reihenweise Balkone, fein säuberlich aneinandergepappt. Manche liebevoll bepflanzt, andere genauso trist wie die umgebende Wand. Die Grünflächen und Spielplätze zwischen den Häusern kann man von der A4 aus nicht erkennen. Dafür müsste man schon die Abfahrt nehmen und hineinfahren in das Klötzchengebiet.
Vorurteile gibt es genug: In den verfallenen Plattenbauten würde sowieso nur der soziale Abschaum von Jena vor sich hinvegetieren; nachts ein unbetretbares Ghetto mit brennenden Mülltonnen und glühenden Crystal-Augen aus dunklen Ecken. Die schier unendliche Fahrt vom Stadtzentrum als unüberwindbare Barriere, schlimmer noch als Frodos Reise nach Mordor. Wie gesagt – Vorurteile.
Der Stadtteil Neu-Lobeda, bestehend aus Lobeda-West und Lobeda-Ost, ist der südliche Zipfel von Jena, eingequetscht zwischen den Kernbergen auf der einen Seite und den Saaleauen auf der anderen. Entfernung: Knapp sechs Kilometer vom Zentrum.

Einbauküchen und warmes Wasser aus der Wand

Hier entstand in den Sechzigern, was Makler heute wohl „wohnen mit DDR-Charme“ nennen würden. Fünf Blöcke, typische Plattenbauten Marke Magdeburg, werden im Dezember 1967 bezugsfertig. Fünf Stockwerke, insgesamt 210 Wohnungen mit Einbauküchen. Warmes Wasser aus der Wand, sogar Telefonanschlüsse gibt es – mehr, als die Bewohner der Innenstadt von ihren Wohnungen behaupten können. Dort wird zu dem Zeitpunkt häufig noch mit Briketts geheizt und von einer schnellen heißen Dusche können die meisten nur träumen. Kaum verwunderlich also, dass die neu gebauten Wohnungen in Lobeda begehrt sind, lange Wartelisten sind die Regel, auch wenn Müll anfangs unter freiem Himmel gelagert wurde und der Gestank der ehemaligen Schweinemastanlage an heißen Tagen aus dem Boden dringt.
Unter 100 Mark kostete damals eine 3-Zimmer Wohnung mit 66,87 Quadratmetern. Dafür mussten Interessenten aber auch schon zwei Kinder in die Welt gesetzt haben und verheiratet sein. Wenn die Kinder dann auch noch unterschiedliche Geschlechter hatten, gab es noch ein Zimmer oben drauf.
Über die Jahre hinweg entwickelte sich Lobeda zum größten Stadtteil von Jena. Kurz vor der Wende lebten über 33.000 Menschen hier, geplant war für 45.000. Der sozialistische Traum: Arbeiter und Professoren nebeneinander, Balkon an Balkon. Der Kindergarten heißt Matrjoschka, die Schule Ernst-Thälmann-Schule, die Straßen sind nach Größen des Sozialismus benannt.
Dann kam der Kollaps. Der Zusammenbruch der DDR führte zum Zusammenbruch von Lobeda. Friedliche Revolution hin oder her, für Lobeda waren die Entlassungen bei Zeiss und anderen Jenaer Firmen eine Katastrophe. Dazu kamen Mieterhöhungen, die viele Menschen ins Umland trieben. Der Kapitalismus hatte Lobeda erreicht. Die Folgen waren schnell sichtbar. Bis zu 13 Prozent Leerstand, marode Baustrukturen, fehlende Infrastruktur. Die einst so beliebte Wohngegend drohte zu dem zu werden, was heute an Vorurteilen über sie exisitiert.

Familienfreundliches Paradies

Zu spüren bekommen diese Vorurteile vor allem die Menschen, die in Lobeda leben. Ana Miron ist hier aufgewachsen. Wenn die Studentin von ihrer Kindheit erzählt, kommen in ihren Geschichten keine Ghetto-Gangster oder Nazi-Schlägertrupps vor. Stattdessen erinnert sie sich an ein Paradies aus Spielplätzen und Parks und an eine wunderschöne Berglandschaft. Lobeda ist der familienfreundlichste Stadtteil Jenas. Rund 2.700 Kinder leben hier, jede Schulform wird angeboten und die Mieten sind günstig.
Das negative Bild Lobedas bekam Ana erst so richtig mit, als sie in Jena zu studieren begann. „Früher habe ich Lobeda nie so gesehen“, erzählt sie. „Vor allem die zugezogenen Studenten haben diese Stereotype im Kopf.“
Von Vorurteilen möchte auch Denis Peisker, Stadtentwicklungsdezernent der Stadt Jena, nichts mehr hören. Lobeda sei eine Erfolgsgeschichte. Radikaler Kahlschlag von überflüssigen Blöcken, Investitionen in Milliardenhöhe und neu geschaffene Infrastruktur hätten Lobeda gerettet: „Heute haben wir knapp zwei Prozent Leerstand und sogar wieder Wartelisten für Wohnungen.“ Über 23.000 Menschen leben 2015 in 13.000 Wohnungen in Lobeda. Der neugebaute Tunnel bedeckt die A4, dämpft den Lärm und schützt Lobeda vor vorverurteilenden Blicken vorbeirasender Autofahrer. Peisker erzählt von den neuen Grünflächen und der nahen Saale, die Lebensqualität böten. Sowieso hätte man alles in Lobeda: Günstigen Wohnraum, Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte und eine Straßenbahn, die alle sieben Minuten in die Stadt fährt. Fahrtzeit: Knapp 15 Minuten. Darüber können Berliner vermutlich nur müde lächeln und in den Schienenersatzverkehr steigen.
Trotzdem kann Peisker die skeptische Haltung der Studenten verstehen: „Lobeda ist nur der erste Anlaufpunkt für Studenten, wenn es darum geht, nach Jena zu kommen und erst mal eine Wohnung zu finden.“ Mit der Zeit würden die Studenten dann eher in die Innenstadt ziehen und sich dort eine WG suchen.
In die Stadt zu ziehen finden andere unvorstellbar. Viele der Bewohner Lobedas leben schon lange Zeit in ihrem Stadtteil und haben ihre festen Gewohnheiten. 2017 feiern die ältesten Bewohner hier 50 Jahre Erstbezug. Sie leben von Anfang an in „ihrem“ Stadtteil und werden vermutlich auch hier sterben.

Schwere Schultaschen und 0,5er Bier

Zeit, sich von den Schwärmereien des Stadtentwicklungsdezernenten und den Vorurteilen zu überzeugen. Die Straßenbahnfahrt? Die 15 Minuten sind geschenkt. Auffällig voll ist es. Kinder mit Schultaschen, die viel zu schwer aussehen. Studenten, die vorgeben zu lernen und doch ständig aufs Handy schauen. Rentner, die stoisch vor sich hinstarren. Aber auch die Abgehängten, schon vormittags Betrunkenen.
Ausstieg an der Haltestelle Universitätsklinikum; hinter einem das Krankenhaus, vor einem der Salvador-Allende-Platz. Immer noch tragen hier viele Straßen Namen des Sozialismus: Karl Marx, Emil Wölk, Werner Seelenbinder. Hier ist die Welt noch in Ordnung, ein bisschen DDR darf noch sein. Zur Erinnerung.
Zwischen den Schluchten der Hochhäuser verläuft man sich schnell. Fixpunkte fehlen und irgendwie sieht alles gleich aus. Die Straßen sind breit und überraschend sauber. In der Innenstadt wäre man sicher schon über Bier- oder Mateflaschen gestolpert.
Noch ist es hell, Menschen kommen von der Arbeit oder vom Einkauf. Vor einem der niedrigeren Balkone steht eine Frau mit Hund. Ihre wuchtigen Arme halten den Hund, dessen struppiges Fell und abgemagerte Figur einen bemerkenswerten Kontrast bilden. Sie unterhält sich mit der Besitzerin des Balkons. Auf die Frage, wie sie es hier finden würden, kommt nur ein lapidares: „Na schauen Sie sich doch mal um! Ist doch schön hier.“ Wie lange sie hier wohnen? Die Balkonbesitzerin schaut auf die Uhr: 27 Jahre. Die Hundebesitzerin muss überlegen und will sich nicht festlegen. Irgendwas zwischen 25 und 30 Jahren. Es sei so schön wie nie, da sind sich beide einig. Auch wenn früher doch manches besser gewesen sei. Was genau, können oder wollen beide nicht sagen.

In Dialekt spricht man über Politik

Angekommen im Studentenclub Schmiede e.V. ist der erste Gedanke: Die Website sieht besser aus als das Gebäude selbst. Holzgetäfelte Decken, schwere Möbel und die Charts der 68er auf MDR sind selten Garanten für studentische Gäste. Sowieso ist die Haardichte am Hinterkopf hier ziemlich gering und Gespräche finden in Thüringer Dialekt statt. Dafür kennt man sich: Ein Mann – beeindruckender Bauch, laute Stimme – entdeckt seinen alten Bauleiter am Tresen und wechselt ins Russische. Freude auf allen Seiten, anstoßen, weitermachen. Die Männer – tatsächlich sitzen dort nur Männer, bis auf die junge Wirtin – wirken interessiert. Die Armenien-Resolution des Bundestages wird besprochen; und für gut befunden. Jetzt müsse man nur noch den deutschen Völkermord 1904 an den Herero anerkennen.
Einen Tisch weiter sitzen sich zwei Männer gegenüber, die ein deutliches Besoffenheitsungleichgewicht auszeichnet. Der eine lallt mehr als er redet, der zweite ist Wortführer. Seine drei Thorhämmer am Hals sind auffällig, aber er betont: „Das ist nordisch! Das hat mit Nazi nix zu tun!“ Er hält sich nicht für einen Rechtsradikalen und die AfD würde er nie wählen. Was er früher so gewählt habe, fragt der erste. Die NPD, ist die überraschend ehrliche Antwort. Der deutlich betrunkenere Mann hält dagegen, die Diskussion geht von Lügen über Flüchtlinge zu den Übergriffen in Köln und dann zu Pfarrer König und seiner Tochter. Offen und friedlich diskutieren hier zwei Menschen mit extrem gegenseitigen Positionen. Schließlich muss der Thorhammer-Liebhaber nach Hause: Morgen früh um sieben wird geschafft. Zum Abschied flüstert ihm sein Trink- und Diskussionskumpane fast liebevoll zu: „Und bleib kein Nazi.“ Der hört es nicht.
Später wird der verbliebene erzählen, dass er hier nicht sein will. 40 Jahre alt sei er, 1997 wollte er studieren. In Leipzig. Aber das wäre nicht gut gegangen. Was ihn nach Jena verschlagen hat, möchte er nicht sagen. „Nach Lobeda zieht man nicht, hier landet man.“ Als ob es ein Gefängnis wäre.
Termin bei Ortsteilbürgermeister Volker Blumentritt. Der Gewerkschafter und Betriebsrat empfängt in seinem Büro im Stadtteilzentrum Lisa. Blumentritt ist seit 18 Jahren ehrenamtlicher Ortsteilbürgermeister, gewählt am 27. September 1998. Das Amt gibt es seit genau diesem Tag. Geschaffen durch ihn, der den Antrag bei der Stadt Jena stellte und der erste Ortsteilbürgermeister Deutschlands wurde. Er lebt für diese Sache. Das Selbstmachen ist ihm wichtig, stolz zeigt er eine Urkunde von 1979. Er hat geholfen die Stadt schöner zu machen, wird ihm da bescheinigt.
Überhaupt redet er lieber von seinen Erfolgen. Der NSU sei ja ziemlich schnell aus Lobeda abgehauen und die Drohungen von Neonazis, die ihn gerne hängen sehen würden, wischt er mit einer Geste vom Tisch: „Da sind Leute neidisch.“ Stattdessen erzählt er, wie er mit Franz Müntefering den Tunnel, der Lobeda viel lebenswerter machen sollte, klar gemacht hat; wie neue Arbeitsplätze Lobeda attraktiver werden lassen, wie Pflegeheime, ein Hospiz, Kindergärten, Rentner-Residenzen gebaut werden sollen. 96 Prozent Zufriedenheitsquote in den Wohnungen sieht er als Bestätigung dieses Kurses.
Es fällt schwer seinen Redefluss zu stoppen: „Ein letzter Punkt vielleicht noch…“
Nur bei den Studenten wird er nachdenklich. Auf der einen Seite möchte er den Studenten eine Heimat bieten, mit Angeboten, wie es sie auch für die anderen Bewohner gibt: Beschäftigungsmöglichkeiten abseits der Arbeit. Aber er möchte sie auch nicht besonders behandeln und gleichzeitig würde jedes bestehende Angebot von den Studenten ignoriert. Die Schmiede ist das beste Beispiel dafür. Eine Kneipenmeile wie die Wagnergasse könne man halt auch nicht einfach nach Lobeda holen. Es ist ihm nicht vorzuwerfen, wenn er das Geld der Stadt lieber in die Familien und die Rentner investiert. Studenten kommen dank Wohnungsmangel in der Innenstadt ja sowieso. Lobeda ist ihre Landebahn.
Es sind alle Seiten, die Lobeda ausmachen. Da ist die vermeintliche Studentenkneipe, die eigentlich eine ganz normale Stadtteilkneipe ist, in der Rechte mit Linken diskutieren und alte Männer Abende verbringen. Da sind die Hunde- und Balkonbesitzerinnen, denen es gut geht und trotzdem in alten Zeiten schwelgen. Und da ist der Ortsteilbürgermeister, der in die Zukunft schauen muss, eben weil die alten Zeiten nicht nur gut waren.
Was bleibt ist die Zukunft: Was passiert mit Lobeda, wenn die Alteingessenen wegsterben, wenn die Studentenzahlen sinken? Lobeda reagiert empfindlich auf Veränderungen. Und darauf möchte man hier vorbereitet sein. Damit keine neuen Vorurteile aufkommen. Bloß keine neue Autobahn.

Mitarbeit: Bernadette Mittermeier, Freya Adamek
Foto: Tarek Barkouni
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