Leerer Teller, Voller Kopf

Über Magersucht

von Anna-Lena Prutscher

Alles andere als ungefährlich: Die Sucht danach, dünn zu sein. Ein Blick auf die Schattenseiten einer vermeintlichen Modekrankheit.

Ich wurde nur selten dafür gelobt, dünn zu sein. Heute bin ich froh darüber. Denn immer mehr Mädchen und Frauen, aber auch Jungen und Männer, erfahren Anerkennung nur noch durch Schlanksein. Doch der Schönheitswahn kann schnell außer Kontrolle geraten. Und endet nicht selten in einer Sucht, die immer öfter idealisiert wird: Anorexia nervosa, besser bekannt als Magersucht.


Auch ich habe mir diese Krankheit vor vielen Jahren mehr oder weniger selbst ausgesucht. Nicht, weil ich wie die Models auf den Laufstegen aussehen wollte, denn dünn war ich schon immer. Sondern weil ich einen Ausweg aus meiner damaligen Situation gesucht habe. Diesen glaubte ich durch Hungern und Abnehmen zu finden. So flüchtete ich in eine Scheinwelt, in der es bald nur noch mich und die Essstörung gab. Alles drehte sich um Kalorien, Essen, mein Gewicht und meinen Körper. Mein Leben bekam wieder Struktur und ich hatte immer neue Ziele, beziehungsweise Zielgewichte, vor Augen. Diese erreichte ich auch. Durch die Beschränkung auf 100 bis 300 Kalorien am Tag – was in meinem Fall meistens einer halben Tütensuppe und ein bisschen Obst entsprach. Doch die vermeintliche Kontrolle, die mir die Magersucht über mich und mein Leben verschaffte, war nur Fassade. Denn war ich erst einmal in der Sucht gefangen, hatte ich eines ganz schnell nicht mehr: die Kontrolle darüber. Nach Wochen des Hungerns konnte ich das Abnehmen nicht mehr stoppen. Das ausgezehrte Etwas, das mir im Spiegel gegenüberstand, war nicht mehr ich selbst. Langsam sah ich ein, dass  Kleidergröße Null und sichtbare Knochen keinen Menschen liebenswerter oder gar perfekt machen. Doch trotzdem schaffte ich es nicht, „einfach wieder zu essen“. Die Stimme in meinem Kopf, die mir das Essen verbot, war zu laut. Ich war der Krankheit ausgeliefert.

Dass viele Menschen Magersucht romantisieren, kann nur an ihrer Unwissenheit darüber liegen. Denn über die Qualen, denen Körper und Psyche der Betroffenen ausgesetzt sind, wird gerne geschwiegen. Wer würde noch exzessiv hungern wollen, wenn er wüsste, dass dies früher oder später Haarausfall mit sich bringt? Dass man auch mit fünf Schichten Kleidung noch friert und die spitzen Knochen selbst das Sofa unbequem werden lassen. Dass die geringste Bewegung anstrengt und der Körper so geschwächt ist, dass ein Kreislaufzusammenbruch den nächsten jagt. Obendrein ist der Kopf überfüllt mit Kalorienangaben, Gewichtsrechnungen und dem schlechten Gewissen nach jeder noch so kleinen Mahlzeit.

Mit fortschreitender Krankheit nimmt auch die soziale Isolation zu. Es macht nicht gerade beliebt, Einladungen ständig abzulehnen. Aber die Angst, mit Essen konfrontiert zu werden, ist größer als alles andere. Außerdem tut es weh, Familie und Freunde ständig anzulügen. Ihnen vorzugaukeln, keinen Hunger oder schon gegessen zu haben. Auch der immer dünner werdende Körper macht schnell nicht mehr glücklich. Betrachtete ich mich nach den ersten verlorenen Kilos noch mit Stolz, empfand ich bald nur noch Scham. Ich sträubte mich gegen Umarmungen, da ich niemandem zumuten wollte, meinen ausgemergelten Körper zu berühren. Auch Schuldgefühle las­ten schwer auf den Schultern von Magersüchtigen. Noch heute bereue ich, mein Umfeld einer großen Hilflosigkeit ausgesetzt zu haben. Ich fühle mich schuldig für all die Nächte, in denen meine Mutter wach lag und vor Angst weinte. Weil sie nicht wusste, ob ihre Tochter am nächsten Morgen wieder erwachen würde.

Unter den psychischen Erkrankungen hat Magersucht die höchste Sterberate. Bis zu 15 Prozent der Betroffenen überleben sie nicht. Sie sterben an den körperlichen Folgen der oft jahrelangen Unterernährung oder beenden ihr Leben selbst. Denn war man nicht schon vor der Flucht in die Magersucht depressiv, wird man es spätestens mit ihr. Und verliert so nach und nach genau das, was man verzweifelt sucht: Glück, Zufriedenheit und Lebensmut.

Foto: Christoph Worsch
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