Fakten gegen Parolen

Eine Argumentationshilfe gegen rechte Vorbehalte

von Niclas Seydack

 

Seit Februar 2014 wird in Jena gegen den Neubau eines Asylbewerberheimes in Lobeda protestiert. – nicht auf der Straße, sondern über eine Facebook-Initiative. Ein Gespräch lehnten die Initiatoren der Seite Nein zum Heim in Lobeda (1.238 Gefällt mir-Angaben) ab,  weil man „der Journaille“ nicht traue. Wir haben deshalb die Einträge auf der Seite selbst analysiert und daraus die Bürgersorgen abgeleitet. Überraschend war das Ergebnis nicht: Auf der Seite werden Stammtischparolen gedroschen und hundertfach wiedergekäut – nichts als Populismus. Und sie sind vor allem eines: polternd und plakativ. Fakten gehen dabei unter. Sachlichkeit eignet sich eben selten für Slogans.
An dieser Stelle sollen daher die häufigsten „Bürgersorgen“ beruhigt werden.

„Flüchtlinge sind Sozialschmarotzer!“
Da wäre zunächst der Klassiker unter den Stammtisch-Ressentiments: „Die Ausländer nehmen uns die Arbeit weg.“ Dabei werden Flüchtlinge oder Asylbewerber bei der Einstellung keineswegs bevorzugt. Das Gegenteil ist der Fall, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens: Sie unterstehen anfangs sogar einem Arbeitsverbot. Nach Ablauf einer bis zu zwölfmonatigen Frist haben sie vier Jahre lang einen beschränkten  Zugang zum Arbeitsmarkt. Das heißt, dass bei jeder Einstellung erst geprüft werden muss, ob die Stelle nicht mit einem Deutschen oder einem EU-Bürger besetzt werden kann. Erst, wenn niemand anderes gefunden wird, darf ein Asylbewerber die Stelle annehmen. Auf diese sind ganze Branchen sogar angewiesen, etwa in der Dienstleistung, der Gastronomie oder der Agrarwirtschaft. Diese Jobs will sonst so gut wie niemand machen.

„Flüchtlinge nehmen uns die Arbeit weg!“
Auch die Arbeitslosenquote entkräftet die Parole: In Thüringen sind 16,6 Prozent der Ausländer arbeitslos, aber nur 8,9 Prozent der hier lebenden Deutschen. Diese Statistik führt zu einer anderen Aussage, die genau andersherum funktioniert: „Flüchtlinge wollen gar nicht arbeiten, sondern sich nur im deutschen Sozialsystem ausruhen.“ Absurd sei, sagt Madeleine Henfling, Vorstandsvorsitzende des Flüchtlingsrats Thüringen, dass die beiden Parolen oftmals im gleichen Atemzug genannt werden. Henfling sagt weiter: „Niemand sitzt etwa in Syrien, schaut sich an, welches europäische Sozialsystem das schönste ist, und wandert dorthin aus. Das einzige, was sich die Flüchtlinge wünschen, ist Sicherheit und eventuell eine Perspektive für ihre Kinder.“
Auch die Gesetze sprechen nicht gerade für ein Luxusleben im deutschen Sozialstaat. Flüchtlinge erhalten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) Sozialleistungen, die sich am Existenzminimum orientieren. Dieses liegt deutlich unter dem Hartz-IV-Satz. Das AsylbLG garantiert zwar eine medizinische Grundversorgung, diese darf allerdings nur in Notfällen in Anspruch genommen werden – Vorsorgeuntersuchungen sind weder möglich noch erlaubt. Das Gesetz regelt weiterhin die Mindestwohnfläche für Flüchtlinge: In Thüringen sind das sechs Quadratmeter. Das ist etwas mehr als die Fläche einer Tischtennisplatte. Zudem gibt es in Gemeinschaftsunterbringung wie dem geplanten Heim in Jena-Lobeda meistens Mehrbettzimmer, sodass in einem 18-Quadratmeter-Zimmer bis zu drei Personen leben.
An dieser Stelle setzt eine Kritik an, die in Jena besondere Brisanz besitzt: der Mangel von Wohnraum, besonders von bezahlbarem. Henfling nimmt hier die Stadtspitze in die Kritik: „Warum wurde entschieden, eine Gemeinschaftsunterkunft zu bauen? Wenn sie schon bauen, warum dann nicht etwas, was für alle da ist: sozialer Wohnungsbau mit einem bestimmten Anteil von Wohnungen, die Flüchtlingen zur Verfügung gestellt werden.“ Henfling kennt Statements von Menschen, die sich von der Politik übergangen fühlen. „Da heißt es dann: ‚Für uns wurde hier die ganze Zeit nichts gemacht und jetzt kommen die Flüchtlinge und für die wird gebaut!‘“ In anderen Städten oder Landkreisen, in denen Flüchtlinge in Wohnungen untergebracht sind, lauten die Vorwürfe: Die bekommen die Wohnungseinrichtung bezahlt. Ist das Gespräch an diesem Punkt angelangt, gerate man oft an die Grenze der Argumentation.“ Was willst du dann noch sagen? Ja, für die wird gebaut und das ist richtig so. Die kommen hierher und haben gar nichts.“
Doch auf welchem Weg kommen Flüchtlinge nach Deutschland und dann insbesondere nach Thüringen? Die Dublin-III-Verordnung der Europäischen Union sieht vor, dass Flüchtlinge in dem EU-Land Asyl beantragen müssen, das sie zuerst betreten. Das ist meistens nicht Deutschland, denn Flüchtlinge kommen selten mit dem Flugzeug oder mit Fähren, die auf der Nord- und Ostsee verkehren. Gelangen sie – auf legalem oder illegalem Weg – nach Deutschland werden sie nach dem Königssteiner Schlüssel verteilt. Nordrhein-Westfalen nimmt über 20 Prozent auf, Bayern 15 und auf fünftletztem Rang steht Thüringen mit knapp drei Prozent. In Jena geht es jährlich um 200 Menschen, die aus ihren Heimatländern nach Deutschland fliehen, beispielsweise nach Jena-Lobeda.

„Flüchtlinge sind kriminell“
Leben Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterbringungen, unterstehen sie in Thüringen der Residenzpflicht. Wollen sie Freunde oder Familienmitglieder besuchen, die außerhalb des Bundeslandes leben, benötigen sie einen Urlaubsschein von der Ausländerbehörde. Ein Verstoß gegen diese Auflage wird als Straftat gewertet, die dann in Kriminalstatistiken auftaucht. Diese Tatsache deute schon an, dass diese Statistik irreführend ist, meint Madeleine Henfling.
In diesen Erhebungen werden Vergehen gezählt, die nur von Nicht-Deutschen begangen werden können, da sie das Ausländerrecht betreffen. Ein Deutscher wird nicht angezeigt, weil er seinen Pass vergessen hat. Und ein Deutscher muss sich – im Gegensatz zu Asylsuchenden – auch nicht verantworten, wenn er die Residenzpflicht verletzt. Als deutscher Staatsbürger ist es selbstverständlich, sich frei und ohne Angaben beim Amt in Deutschland und in der EU bewegen zu können.
Außerdem erfasst diese Statistik Tatverdächtige, nicht die Verurteilten. Und tatverdächtig kann erstmal jeder sein. Menschen, die ausländisch aussehen, würden von Polizisten häufiger kontrolliert. Selbst wenn diese Menschen dann zweifelsfrei nachweisen könnten, dass sie mit einer Tat nichts zu tun haben, würden sie in den Kriminalstatistiken aufgeführt. Henfling sagt: „Auch die Polizei bestätigt immer wieder: In der Nähe von Gemeinschaftsunterkünften gibt es keinen Anstieg von Kriminalität.“

„Deutschland wird überfremdet!
Genauso wenig gibt es einen Nachweis dafür, dass Deutschland überfremdet. Gerade in Thüringen dürfte es schwer fallen, ernsthaft den Eindruck zu gewinnen, hier würden zu viele Ausländer leben. Mit einem Ausländeranteil von 2,3 Prozent liegt Thüringen deutlich unter dem bundesdeutschen Durchschnitt.„Es geht bei den Argumenten gegen die Flüchtlinge nur vordergründig um diese“, sagt Henfling. Hinter der diffusen Angst vor dem Fremden und diesen Parolen stecke oftmals die Angst vor dem eigenen, sozialen Abstieg. Sie sagt weiter: „Da sind ganz tief verwurzelte Rassismen oder Vorurteile. Was die Leute eigentlich sagen wollen ist: ‚Mir geht’s schlech, ich hab eine Scheiss-Arbeit, warum soll es anderen gut gehen, wenn es mir schlecht geht.‘“ Kombiniert mit einer fremdenfeindlichen Einstellung wird das auf die Flüchtlinge projiziert.
In Thüringen gibt es jährlich eine Abwanderung von 4.000 Menschen. Auf der anderen Seite kommen jährlich etwa 3.000 Flüchtlinge. Dazu kommt – sowohl in Thüringen als auch im Rest der Republik – eine sinkende Geburtenrate. Bevor Deutschland also überfremdet, stirbt Deutschland aus.

 

Illustration: Felix Bauer

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