Queerulanten – oder nicht

von Dirk Hertrampf

Thüringen ist das grüne Herz Deutschlands – ergo tiefste Provinz. Der Leuchtturm im Saaletal macht dies mitunter gern vergessen. Jena ist eine junge, aufgeschlossene und vor allem tolerante Unistadt. Sollte sie zumindest sein.
Sie könnte also Platz genug für alle bieten: Lebenskünstler, Paradiesvögel und bewusste Außenseiter der binären Geschlechterzuweisung. Und doch: Ein Restzweifel bleibt. Wann habt ihr das letzte Mal zwei Männer Hand in Hand in der Mensa gesehen? Zwei küssende Frauen in der Wagnergasse? Einen Mann in High Heels auf dem Holzmarkt?
Jenas queere Szene ist öffentlich wenig sichtbar. Wie groß ist sie wirklich und ist Jena nicht doch zu eng für eine Subkultur?

„Das Beste ist die gute Anbindung nach Leipzig und Berlin über den Paradiesbahnhof.“ So oder so ähnlich klingt die typische Antwort, fragt man in Jena Nicht-Heterosexuelle nach den Vorzügen der ‚Szene‘.Knapp 107.000 EinwohnerInnen hatte Jena Ende 2012 zu verzeichnen, rein statistisch müssten etwa 5.000 bis 10.000 davon zumindest „nicht ausschließlich heterosexuell“ sein. An sich also mehr als genügend Leute für eine lebendige Subkultur, ausreichend um die Rose zu füllen, den Kunsthof flächendeckend mit Lesungen zu überziehen oder jede Woche Vorträge im Wagner zu organisieren.

NICHT UNSERE ROLLENBILDER

„Die Bezeichnung ‚queer‘ ist nicht nur ein Sammelbecken für alle, die nicht heterosexuell sind, sondern auch für jene, die dem Rollenbild Vater-Mutter-Kind, die Eltern natürlich verheiratet, nicht entsprechen“, erklärt Elke Metzmacher vom Aufklärungsprojekt „miteinanders“*.Matthias Gothe, sowohl aktiv bei „Queerweg – Vielfalt leben e.V.“*als auch bei „Queerparadies“*, fügt hinzu: „Oder jene, die diese Rollenerwartungen bewusst hinterfragen. Nicht einfach tradierte Rollenverhältnisse übernehmen, sondern sie selbst zu wählen, das ist queer.“ Folgt man dieser Definition, dann löst sich der Begriff vom Aspekt der sexuellem Orientierung. Ein Mann muss dann gar keinen Mann mehr küssen, es reicht bereits, keine Lust auf ein fremdbestimmtes Leben mit Gattin in der Doppelhaushälfte mit Rassepudel, der an die Reifen der S-Klasse pinkelt, zu haben, um queer zu sein. Was den Begriff und damit auch den Einzugsbereich der Szene erhöhen müsste. Gerade unter StudentInnen, einer Bevölkerungsgruppe, die oft mit einem hohen Maß an Reflektiertheit und verstärktem Drang zu Individualismus assoziiert wird, müssten queere Personen dieser Definition folgend also beinahe die Mehrheit stellen.
Liegt die geringe Breitenwirkung in Jena also eher an der Selbst- oder Fremdbezeichnung als Szene, sprich einer eingeschworenen und nach außen abgeschotteten Gemeinschaft von Gleichgesinnten? Wer sich näher mit ihr beschäftigt, erkennt, dass – wie wohl fast überall – die Vorstellung einer einheitlichen Keimzelle mit annähernd identischen Ansichten und Zielen nicht haltbar ist. Die Namen einiger Akteure tauchen immer wieder auf, hier ist Matthias mit seinem Doppelengagement bei Queerweg und Queerparadies ein typisches Beispiel, aber das gilt ebenso für andere Bereiche in Jena. Jena ist und bleibt überschaubar.
„Wir haben versucht, uns als Plattform zu etablieren. Zu Beginn haben wir Projekte aus eigenen Mitteln gemacht, doch jetzt unterstützen wir vor allem Personen, die mit einer Projektidee auf uns zukommen. Wir stellen Know-How zur Verfügung“, erklärt Matthias.

NICHT NUR POLITIK

Neben Vereinen und Initiativen, die sich direkt für die Aufklärung über nicht-heterosexuelle Lebensweisen einsetzen, gibt es auch eine Reihe von Organisationen, welche die Szene ohne dezidiert gesellschaftspolitischen Anspruch bereichern. Dazu gehört der schwul-lesbische Sportverein Paradiesvögel e.V.
„Der Hauptgrund, warum es uns gibt, ist der Versuch eine soziale Plattform, auch abseits der sonstigen Szeneveranstaltungen, zu bieten. Ein Viertel unserer Mitglieder würde auch nirgendwo anders spielen“, erklärt Thomas Nobis, Vorstandsvorsitzender und Gründer des Vereins. Die Paradiesvögel verstehen sich als allgemeiner Sportverein, können derzeit aber eher als schwuler Volleyballverein beschrieben werden. „Es können sehr gern Frauen mitmachen, aber für viele derjenigen, die da waren, war es wohl nicht interessant genug, weil eben doch Männer in der Überzahl sind“, erklärt Nobis. Gerade würde nach jemandem gesucht, der sich zutraue, ein Badmintontraining zu betreuen.
Hier zeigt sich ein weiteres Charakteristikum: Jena bietet eine relativ ausgebaute Infrastruktur, die vieles ermöglicht, es muss sich nur jemand finden, der sich verantwortlich fühlt und den Anfang eines Projekts betreut. „Es kommt einfach darauf an, was man möchte. Für mich war ein Sportverein wichtig, deshalb haben wir einen gegründet“, resümiert Nobis. Ähnlich war es etwa bei Radio Queerfunk, einem Medienprojekt auf dem Offenen Kanal Jena. Seit 2000 gibt es jeden Monat zwei Stunden „Musik, Film- und Buchtipps und Termine für die queere Gemeinschaft“.

NICHT ZU GROSS

Im ersten Moment sieht alles rosig aus, vor allem wenn man den Blick auf traditionelle Großveranstaltungen der queeren Szene richtet. In Thüringen haben dieses Jahr sogar zwei Christopher-Street-Days (CSD) stattgefunden: Am 29. Juni in Erfurt und am 13. Juli in Weimar. Der CSD erinnert an den Aufstand von Homosexuellen am 28. Juni 1969 in der New Yorker Christopher Street, bei dem sich gegen willkürliche Polizeirazzien zur Wehr gesetzt wurde, was letztendlich in tagelangen Straßenschlachten gipfelte.
Seit 1979 gibt es in Deutschland regelmäßig CSDs, seit 2003 auch in Thüringen. Nachdem die Parade lange Zeit in Erfurt abgehalten wurde, fand sie 2011 und 2012 in Weimar statt. Dieses Jahr wurden dann erstmals zwei separate Veranstaltungen organisiert.
In Jena gab es noch keine Parade, dafür ist das hiesige Festival zum IDAHOT*, dem Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie am 17. Mai, die größte Veranstaltung ihrer Art in Deutschland (siehe Akrützel Nr. 322). Einmal pro Semester veranstaltet Queerparadies die Queerbeat-Party im Rosenkeller, ansonsten gibt es keine regelmäßigen Discoveranstaltungen für nicht-heterosexuelles Publikum. „Es wäre schön, wenn es hier in Jena eine regelmäßige schwule Party gäbe. Aber ich glaube einfach, dass man von der Stadtgröße her nicht mehr erwarten kann“, meint auch Nobis.
Wer sich also gehäuft innerhalb der Szene in Ekstase wiegen möchte und Interesse an einem gleichgeschlechtlichen Flirt auf der Tanzfläche hat, der muss wirklich nach Weimar, Erfurt oder Leipzig ausweichen. Dank Semesterticket ist das jedoch vertretbar.

NICHT RENTABEL

So etwas wie ein queeres Café existiert vor Ort ebenfalls nicht. Was dem am nächsten kommt, ist die Queerlounge im Kassaturm. Etwa fünf ehrenamtliche HelferInnen betreuen hier jeden Dienstag ab 20:00 Uhr eine Bar. Warme und kalte Speisen werden auch angeboten und die beheizbare Eckbank ist eine fest etablierte Größe. Eine nichtkommerzielle Anlaufstelle existiert also.
Mit dem Jenaer Mens Club gab es in der Ballhausgasse von 2006 bis 2010 ein ähnliches Angebot – jedoch ausschließlich für (schwule) Männer und sehr viel stärker szeneintern orientiert. Die Nachfrage reichte je doch nicht, um den Club langfristig rentabel betreiben zu können.
Von den beteiligten AkteurInnen wird die Szene jedoch mehrheitlich positiv bewertet. Die Queerlounge spricht auf ihrer Website www.ql.queerweg.de von der „kleinen, aber spannenden Jenenser Szene“. Auch Madlen Nagel von der AIDS-Hilfe Weimar und Ostthüringen resümiert ähnlich: „Wir haben momentan das Glück, dass wir in Jena und Weimar queere Organisationen haben, die sehr rührig sind, die wirklich viel machen und sehr sensibel mit dem Thema umgehen.“ Die AIDS-Hilfe ist fest integriert, man kennt sich und so kann es durchaus vorkommen, dass Kondome „auf dem kurzen Dienstweg“ in die Queerlounge gelangen. Nagel ist auch nicht traurig über die Ausrichtung der Szene: „Ich sehe, dass es eine sehr engagierte Szene gibt, natürlich ist die kleiner als in anderen Städten. Unser Zugang funktioniert über Öffentlichkeitsarbeit, Beratungsarbeit wäre in einer Partyszene sowieso nicht machbar.“
Während die AIDS-Hilfe also relativ gut an die Szene angebunden ist, bleiben Frauenvereine wie etwa Towanda e. V., die BetreiberInnen des Frauenzentrums am Ende der Wagnergasse, eher außen vor. „Dahin haben wir nicht so enge Kontakte, obwohl sie auch einen Lesbenstammtisch haben. Diese Konzentration auf Frauen ist uns aber zu einseitig“, meint Metzmacher von ‚miteinanders‘. Insgesamt bemühe sich jedoch gerade Queerweg um Vernetzung mit anderen InteressensvertreterInnen, also etwa Parteien, dem Thüringer Kultusministerium oder Gewerkschaften.
Jena hat keine queere Partyszene, ebenso wenig wie ein institutionelles Nachtleben mit Bars oder Kneipen auf diesem Gebiet. Bisherige Versuche in diese Richtung lassen die Frage aufkommen, ob ein regelmäßiges Angebot (über bisherige ehrenamtliche Bemühungen hinaus) überhaupt genutzt würde.
Im Bereich sozialpolitischen Engagements passiert mehr. Es gibt Vernetzung und Aktionen, durchaus konzentriert auf Großtermine wie IDAHOT* und CSD, aber auch darüber hinaus – sofern sich jemand für die Betreuung findet.

NICHT MEHR LEISTBAR

Ein bewusstes Abkapseln vom Rest der Stadt, dem heterosexuellen Mainstream, ist nicht feststellbar. Trotzdem bleibt die weite Definition des Begriffs queer (und die damit kommunizierte Offenheit) ohne feststellbare Wirkung. Nur weil jemand kulturelle Geschlechterrollen hinterfragt, engagiert er oder sie sich nicht sofort bei Queerparadies oder in der Queerlounge. Schade eigentlich.
„Sich neben Studium und Arbeit in diesem Bereich zu engagieren geht für uns jetzt schon an die Grenzen. Mehr ist – zumindest von uns – nicht leistbar“ macht Matthias deutlich. Für die Zahl von AkteurInnen ist Jenas Szene mehr als ordentlich und die Angebote zumindest grundsätzlich ausreichend. Wer mehr will, muss es selbst machen.

 
Mitarbeit: Tarek Barkouni / Carlotta Ickert

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