Das neue Wunderland

CocoRosie auf der Kulturarena

Von Anna Zimmermann
und Louisa Reichstetter (Fotos)

Zwei Mädchen treffen sich an einem Freitagabend zum Spielen. Gekleidet sind sie in alles, was sich in Omas Kleiderschrank auffinden ließ: „Coco“ ist in eine zweite Haut aus blau-gemuscheltem Stoff gehüllt, darüber weht ein blauer, weiter Rüschenmantel. Wie eine barocke Fee schwebt sie auf die Bühne. In gewisser Weise stellt „Rosie“ das Gegenteil dazu dar. Ihre Mütze lässt sie aussehen wie einen Hip Hopper, aus der Hose schauen weiße Shorts. Sie wirkt beinahe maskulin, auch wenn sie eine Schürze mit roten Herzen umgebunden hat oder sich einen aus Perlen bestehenden Schleier vors Gesicht hängt. „CocoRosie“ sind unkonventionell, sie spielen mit Identitäten und stellen ihre Weiblichkeit nicht mit offen getragenem Sexappeal zur Schau. Und dennoch sind sie genau das – anziehend feminin –, während sie wie unbeschwerte Mädchen über die Bühne der Kulturarena springen.
Ihre Musik ist dabei mehr als nur kindliches Geklingel und oberflächliches Gedudel. Bianca und Sierra Casady bauen sich einen eigenen Kosmos, der ein bisschen wie die Welt der Alice im Wunderland anmutet. Feministisch und sphärisch, tiefgründig und eindeutig Stellung beziehend verkleiden die zwei in den USA aufgewachsenen Schwestern gewichtige Themen in blütenblattleichte Töne. Die Auswahl ihrer Instrumente ist kindlich bunt gemischt und unbekümmert zusammengestellt: Bianca – „Coco“ – spielt Harfe, Sierra – „Rosie“ – Flöte, Klarinette, Glockenspiel und außerdem drückt sie auf die Tasten eines Tierstimmenimitators für Kleinkinder. Ihre Stimmen sind genauso beeindruckend wie unterschiedlich. Bianca ähnelt einer Opernsängerin, zwitschert hohe und höchste Töne gefühlvoll und rücksichtslos. Der Sprechgesang der Sierra kontrastiert mit einer verzerrten, irrealen Stimme, die dennoch nicht weniger eingängig erscheint. Zusammen formen die beiden daraus einen Klangteppich, der von Beatboxer, Pianist und Schlagwerk verdichtet wird. Die Töne überlagern sich, sind einzeln kaum wahrnehmbar. Gemeinsam bilden sie aber den gleichzeitig flüchtigen und komplizierten Stil der Band; eine Mischung aus elektronischer Experimentalmusik, Hip Hop und Folk.
Mit offenem Mund möchte man den beiden Frauen lauschen, die über die Bühne springen und tanzen. Sie klatschen sich ab wie Mädchen auf dem Schulhof, drehen sich ausgelassen und winden ihre Arme im Takt. Das Publikum lässt sich mitreißen, wiegt sich im Regen und klatscht sich mit jedem Applaus einen Sprühnebel ins Gesicht. Als nach einer Dreiviertelstunde die Pause der Sängerinnen durch den Beatboxer überbrückt wird, tut das dem Hörerlebnis keinen Abbruch. Er erzeugt derart tiefe Basstöne, dass das Brustbein der Zuhörer ebenfalls in Vibration gerät. Der Körper schwingt und die Intimität der manuell erzeugten Musik von „CocoRosie“ zieht Kreise.
Zwei Zugaben gibt die Band, wird immer ausgelassener auf der Bühne und bedankt sich mehrfach derart offenherzig, dass man ihr glauben möchte, dass es sich dabei nicht nur um gedroschene Phrasen handelt. Denn Kinder sagen die Wahrheit und betrachten die Welt, wie wohl auch die Schwestern ihre Umwelt gesehen haben wollen: mit staunenden Augen und einer großen Menge Phantasie.

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