Gastkommentar von Dr. Robert Gramsch zum Bildungsstreik
“Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Bildung klaut!” Foto: Matthias Benkenstein |
Am Morgen des 17. Juni (…) setzen sich in Jena (…) die Demonstrationszüge (…) in Bewegung. Unterwegs werden die Gebäude verhasster politischer Organisationen attackiert oder erstürmt. Papier fliegt aus den Fenstern, Parteiabzeichen werden abgerissen, eine Amtsleiterin fühlt sich bedroht. „Wir mussten uns verbarrikadieren.“ Der Vorsitzende der LDP im Bezirk Gera kritisiert die Vorfälle in Jena: „Durch die Sachbeschädigungen sind die berechtigten Anliegen des Streiks in Misskredit geraten.“
(Fiktiver Bericht unter Einmischung von Quellenzitaten aus http:/www.17juni53.de/tote/diener.html und aktueller TLZ-Berichterstattung zum 17.6.2009)
Die Jenaer Lokalseite der TLZ machte am 18.6.2009 mit zwei größeren Fotos auf. Das eine zeigt die tausende Bildungsdemonstranten vom Vortag, das andere das kleine Häuflein „alter Herren“, die an die Opfer des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 erinnerten. Ich fürchte, die letzteren werden über das Dröhnen der Beats von der Demo sehr die Nase gerümpft haben (BfJ-Chef Jürgen Haschkes hohe Meinung von den Studenten, die lieber „arbeiten sollen“, kennt man ja). Deutsche Schizophrenie.
Da beschimpft man Studenten, die laut sind und sich erdreisten, Papier zu zerreißen und feiert zugleich eine Revolution, in deren Verlauf in Ostberlin sogar ein Warenhaus und zahlreiche Kioske brannten! Dies ist nicht nur eine Frage des zeitlichen Abstandes, sondern eine der politischen Perspektive. Und deshalb kaufe ich Herrn Uwe Barth, dem Thüringer FDP-Landesvorsitzenden von 2009, auch nicht ab, dass er die Anliegen des Bildungsstreiks für „berechtigt“ hält. Nur wagt er nicht, es offen zuzugeben, und verschanzt sich hinter einem formalen Argument. Auch die SED-Machthaber von 1953 haben die aufständischen Arbeiter als „Randalierer“ verunglimpft. Formale und ästhetische Argumente sind auch in der Zeitungsberichterstattung der letzten Tage so häufig aufgetaucht und so einseitig gegen die Bildungsdemonstranten gerichtet worden, dass sich eine nähere Beschäftigung damit lohnt. Denn von solchen Argumenten kann man sich rasch blenden lassen.
Zu Beginn der Campusbesetzung am Montagabend, als die Polizei eintrudelte und sofort die Keule „Hausfriedensbruch“ schwang, um die Studenten einzuschüchtern, da gesellte sich zu der kleinen Diskutantenrunde vor dem besetzten Hörsaal auch eine Mitarbeiterin der Juristenfakultät, die gegen die rechtsbrechenden Studenten wetterte. Absolut gesetzeskonformes Verhalten wird heutzutage nur allzu schnell zum Fetisch erhoben. Wenn, wie hier geschehen, (völlig gewaltloser) Hausfriedensbruch rhetorisch mit Mord gleichgesetzt wird, wird die Verhältnismäßigkeit der Argumentation jedenfalls nicht gewahrt. Nach dieser Logik waren selbst die „Keine Gewalt“-Demonstranten von 1989 potentielle Mörder, denn sie nötigten Straßenbahnen zum Anhalten. Man hat schon früher festgestellt, dass die Deutschen vor jeder Revolution immer erst eine Bahnsteigkarte lösen.
Hiermit im Zusammenhang steht das rein ästhetische Argument, das in den gesitteten akademischen Kreisen eine besondere Zugkraft besitzt. Ereiferte sich doch dieselbe Juristin: „Da ziehen die mit solchen Wuschelpuscheln durch die Hörsäle, das ist doch primitiv!“ Gemeint war das blaue Streikmaskottchen, das am Mittwoch auf der Straße sehr gut ankam, in einem Hörsaal voll Juristen, Wiwis oder Historikern aber zweifellos einen Kulturbruch darstellt. Und was sagte die Dame, als sie gefragt wurde, wie sie denn nun die Studienreform fände? „Nun, die ist natürlich Sch…!“ Na also! Warum zieht sie dann nicht im Hosenanzug durch die Hörsäle und wirbt für den Streik?
Man hätte nach dem in der Jenaer Universitätsgeschichte einmaligen, kolossalen Mobilisierungserfolg der schüler-studentischen Demonstranten erwartet, dass die Medien sich in den „Tagen danach“ mit deren Forderungen und Vorstellungen beschäftigen. Stattdessen Klagen über Kaffeeflecken im Rektorbüro und über eine verängstigte Amtsleiterin. Ärgerliche Kollateralschäden, gewiß. Aber hat schon mal ein Redakteur darüber berichtet, welche „strukturelle Gewalt“ in demselben Amt (natürlich nicht immer, aber doch belegbar und zwar nicht nur in Einzelfällen) hier gegenüber Studenten ausgeübt worden ist, denen wegen Nichtigkeiten oder gar behördlichem Verschulden Exmatrikulation oder Studienverzögerung
drohte?
In der TLZ vom 18. Juni wurde beklagt, dass sich die Aufarbeitung von 1953 bei Schülern und Lehrern keines besonderen Interesses mehr erfreut. Vielleicht würde das Thema für heutige Jugendliche etwas spannender werden, wenn die „alten Herren“ von damals einmal in einen echten Dialog mit der heutigen Jugend treten würden!