Leichen zum Frühstück

Ein Besuch in der Jenaer Anatomie

Von Daniel Hofmann

 Foto: Christoph Worsch

Ein großer Raum mit Lampen, die so schwach leuchten, dass man sie genauso gut durch Kerzen ersetzen könnte. Glänzende Tische aus Edelstahl, auf denen sich Leichen erst kürzlich Verstorbener befinden. Es ist totenstill. Während alle angehenden Mediziner sich um ihre Studienobjekte versammeln, steigt einem ein übler Geruch in die Nase, den man kaum abschütteln kann – so stellt man sich einen Anatomiesaal vor, wenn die einzige Quelle der gleichnamige deutsche Horrorfilm wäre.
Tatsächlich empfahl mir der Direktor des Instituts für Anatomie I, Professor Christoph Redies, vor dem Besuch gut zu essen. Trotz der Befürchtung dieses Essen bald wiederzusehen, stehe ich mit vollem Magen, rund 30 anderen Studenten und sieben leblosen Übungsobjekten im Präpariersaal. Der Raum ist jetzt hell erleuchtet und die dunklen Ecken, die in keinem Horrorfilm fehlen, suche ich hier vergebens. Es ist sieht fast aus wie in einem Krankenhaus, bloß geht es hier nicht mehr darum, dem Patienten das Leben zu retten. Die angehenden Mediziner haben sich bereits um die Leichen versammelt, deren Brustkorb geöffnet wird. Meine Befürchtung, dass sich beim ersten Anblick mein Magen umdreht, war unbegründet. Was hier vor mir liegt, ist kein Mensch mehr: es ist Lernmaterial! Die Körperspender liegen ein Jahr lang in einem mit Formaldehyd gefüllten Behälter, erklärt mir Professor Redies. Die Haut ist verschrumpelt und ledern, die inneren Organe sind fest und ausgetrocknet. Der Anblick erinnert eher an Mumien aus Fernsehdokumentationen. Den meisten Jungmedizinern scheint es wie mir zu gehen: Nur ein oder zwei von rund 200 Erstsemestern kippen beim ersten Unterricht um, berichtet Redies. Noch seltener brechen die Studenten ihr Medizinstudium wegen des Anatomieunterrichts ab.
Der Geruch im Saal ist mitnichten der von Verwesung: Formaldehyd beißt und sticht säuerlich in die Nase. Redies weist mich darauf hin, dass heute immerhin nur der Geruch von sieben präparierten Leichen in der Luft liegt. Im ersten Semester des Medizinstudiums seien regelmäßig alle 18 Tische des Anatomiesaals besetzt. Er selbst nimmt den Geruch gar nicht mehr war.

Vom Mensch zum Material

Ich beobachte die Studenten dabei, wie sie Millimeter für Millimeter jede noch so kleine Ader im Körper freilegen. Das Einzige, was ich auf den ersten Blick erkenne, ist das Fett. So gelb, als hätte man es mit Schulmalfarbe eingefärbt. Ich warte vergeblich auf den Moment, an dem mein Magen diesen Eindrücken nicht mehr standhält. Am Ende des Raumes sitzen zwei Studentinnen vor einem Plastikskelett und fragen sich gegenseitig ab. Neben ihnen stehen ein paar Kisten. Sie sind beschriftet mit „Arme“, „Beine“ und „Köpfe“.
„Die Körperteile dienen als Prüfungsmaterial“, sagt Professor Redies. In einer mündlichen Prüfung werden sie ausgepackt und der Student muss dann jeden Muskel und Nerv daran richtig bestimmen können.
Die Körper werden in einem anderen Stockwerk des Anatomischen Instituts für die Praktika vorbereitet und gelagert. Dort, wo nun Studenten ihre ersten Erfahrungen mit menschlichem Gewebe machen, befand sich einst die Universitätskirche. Sie wurde 1945 bei einem Bombenangriff zerstört. Die alten Wände und Türen erinnern noch daran, aber ansonsten ist alles auf dem neuesten Stand. Die Edelstahlbehälter, in denen die rund 50 derzeit verwendeten Körperspenden lagern, reichen vom Erdgeschoss bis in den Keller. „Früher hatten wir Kachelbecken, aber die sind immer ausgelaufen“, erinnert sich der Professor.
In den letzten 40 Minuten habe ich gesehen, wo die Leichname gelagert, aufgeschnitten und zerteilt werden. Nun frage ich mich: Würde auch ich der Medizin meinen Körper zur Verfügung stellen?
Viele Menschen scheinen bereit dazu. Die Universität Jena hat in ihrer Kartei derzeit rund 1000 noch Lebende, die sich nach ihrem Tod der Anatomie überlassen wollen. „Die Eintragung muss mit dem eigenen, freien Willen erfolgen. Wenn jemand kommt und sagt ´Meine Mutter ist gestorben, können Sie die gebrauchen‘, funktioniert das nicht“, erläutert Professor Redies. Dass all diese Körperspenden auch Menschen sind, vergessen die Studenten und Dozenten nicht. Gemeinsam organisieren sie jedes Jahr eine ökumenische Gedenkfeier für die Spender. Der nächste Gottesdienst findet im Juni statt. Auch die Kosten für die Einäscherung und Beisetzung der Toten übernimmt die FSU. An anderen Universitäten ist das nicht mehr der Fall: Dort verlangt man von potentiellen Körperspendern einen Beitrag zwischen 600 und 1200 Euro, um die hohen Begräbniskosten zu decken.

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