Akademische Missgeschicke und ihre gravierenden Folgen

Zum wiederholten Male haben Professoren gegen Prüfungsordnungen verstoßen – zum großen Nachteil der Studenten

Von Matthias Benkenstein

Die oft belächelte Schusseligkeit der Professoren: Nicht selten hat sie für Studenten negative Folgen.                                                                                                                                    Foto: Paramount Pictures

In der Regel dauern schriftliche Examensprüfungen vier Stunden. Die Prüfung, die Christine vor einem Monat im Fach Soziologie schrieb, dauerte dagegen nur fünf Minuten. Beginn: morgens halb neun. Abgabe: fünf nach halb neun.
Professor Bruno Hildenbrand hatte Fragen zu einem Fachtext gestellt, der gar nicht im Prüfungskanon des Instituts auftaucht. Konsequenz: Die Mehrheit der Examensteilnehmer konnte mit dem Bestandteil einer Frage – der Herleitung eines bestimmten Begriffs – nichts anfangen.

Panik bei der Prüfung

„Jetzt war die Panik da“, sagt Christine, die ihren richtigen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will. Auch die Klausur-Betreuerin aus der Soziologie konnte den Studenten nicht weiterhelfen. Zwar rief sie sofort Hildenbrand an, erläuterte ihm das Problem und bekam auch eine grobe Erläuterung des problematischen Begriffs zurück. Aber es half alles nichts: 20 von 30 Studenten mussten ein weißes Blatt abgeben. Das Examen war für sie gelaufen, auch für Christine.
Draußen vor der Hörsaaltür flossen dann bei vielen die Tränen. „Wir waren wütend auf den Professor, dass er so etwas Wichtiges verschlampt hat, seinen Job nicht richtig gemacht hat“, sagt die Studentin. Am größten aber sei die Unsicherheit unter den Kommilitonen gewesen, ob sie ihren Studienabschluss noch rechtzeitig schaffen. Der Nachschreibetermin der Examensprüfung im Juli wäre nämlich viel zu spät.
Wenn die angehenden Lehrer ihr Referendariat in Thüringen, Sachsen oder Sachsen-Anhalt absolvieren wollen, dann müssen sie sich bis spätestens Juni bewerben, das heißt, sie müssen bis dahin ihren Studienabschluss in der Tasche haben. Halten sie sich nicht an den Termin, müssen sie ein volles Jahr warten. Die Lebensplanung wäre über den Haufen geworfen und auch der Referendariats-Verdienst fiele weg.
„Aber auch wenn die schriftliche Prüfung im Juni nachgeschrieben werden kann, überschneidet sie sich vielleicht mit anderen mündlichen“, sagt Christine. Die ohnehin schon hohe psychische Belastung nähme noch einmal zu, weil sie wüsste, dass sie sich nicht mehr auf alle Examina gleich gut vorbereiten könnte.
Nach der abgebrochenen Klausur wandten sich die Studenten an das Landesprüfungsamt für Lehrämter. „Dort habe ich mich fast noch mehr aufgeregt als bei der Prüfung“, sagt Christine. Denn dort zeigte man für ihr Problem kein Verständnis. Man belehrte sie vielmehr, dass sie eben intensiver hätten lernen müssen. Die Studenten müssten in der Lage sein, Fragen aus dem gesamten Wissensgebiet der Soziologie zu beantworten. Außerdem sei der Prüfungskanon, auf den sie sich berufen, illegal.
Auch wenn die Literaturliste nicht gleichwertig zum geschriebenen Recht ist, so ist sie doch seit vielen Jahren Konsens am Institut und stellt eine sinnvolle Eingrenzung des zu lernenden Stoffes dar.

Schuld eingestanden

„Die Menge an Literatur ist auch so schon kaum zu bewältigen“, sagt Christine. Ihr Examen für die Fächerkombination Deutsch und Sozialkunde auf Lehramt besteht aus insgesamt zwölf Prüfungen. Für jede davon muss sie selbst mit dem Literaturkanon fünf bis zehn Bücher lesen.
Das Landesprüfungsamt wies die Lehramts-Studenten dennoch auf ihr Recht hin, sich bei der entsprechenden Abteilung des Kultusministeriums zu beschweren, wenn sie ihre „Chancengleichheit als beeinträchtigt sehen“ – was sie auch umgehend taten.
Professor Bruno Hildenbrand entschuldigte sich einige Tage später bei den Examenskandidaten und räumte seine Schuld ein. „Ja, das ist dumm gelaufen“, sagt er, die beiden Texte seien leicht zu verwechseln gewesen. Auch er habe sich sofort an den Referenten des Landesprüfungsamtes Wilfried Huth gewandt, habe die Sachlage erklärt und versucht den Nachschreibetermin vorzuziehen, um das Referendariat der Studenten nicht hinauszuzögern. Von offizieller Seite wurde dem inzwischen auch stattgegeben.
„Solche Fehler passieren manchmal einfach“, sagt Hildenbrand. Zwar stünde er unter einer hohen Arbeitsbelastung – gerade erst musste er 600 Vorlesungsklausuren korrigieren, er hat zwei Forschungsprojekte am Laufen und bereitet ein Buch vor. Dennoch hätte es – unabhängig vom Stress – jedem passieren können. Und so passiere es auch jährlich mindestens einmal, sagt der Professor. Einige seiner Kollegen seien auch schon in diese Situation geraten.
Ihm selbst sei so ein Fehler zum ersten Mal unterlaufen, so Hildenbrand. Mindestens zwei Studenten der Uni Jena berichten jedoch das Gegenteil: Ein ähnlicher Fehler sei ihm während einer früheren Magister-Zwischenprüfung schon einmal passiert.
Das Soziologie-Examen dieses Jahres war nicht das einzige, bei dem man sich über den Prüfungskanon hinweggesetzt hatte. So tauchte dasselbe Problem auch in der Philosophie auf. Ähnliche Fälle sollen auch schon in der Interkulturellen Wirtschaftskommunikation und in der Politikwissenschaft vorgekommen sein. Offizielle Zahlen und Statistiken zu derlei Unregelmäßigkeiten sind jedoch nirgends zu finden, gelten sie doch als eine Art Kavaliersdelikt der Professoren, die für sie folgenlos bleiben. Wilfried Huth vom Landesprüfungsamt bestätigt, dass diese Art Verfahrensfehler in der Regel keine Konsequenzen habe.

Allgemein

Eine Antwort auf Akademische Missgeschicke und ihre gravierenden Folgen

  • Ein großes Plus in der Soziologie wäre es doch erst einmal, wenn es eine gültige Prüfungsordnung gäbe, auf die sich ein Student berufen kann. Die angesprochenen früheren Probleme während der Zwischenprüfungen kamen nicht zuletzt dadurch zu Stande, dass in der Soziologie in Jena alles über Konvention geregelt ist und etwa die Studien- und Prüfungsordnung für Magister Nebenfach voller Fehler ist (siehe etwa Lehrforschung). Man muss sich bei den älteren erkundigen und hoffen, dass die keinen Mist erzählen.
    Worauf soll ich mich als Student berufen, wenn mir alle sagen: “Halte dich an den Kanon” und in der Prüfungsordnung selbst bzw. auf den Internetseiten der Soziologie stehen nur schwammige und mehrdeutige Formulierungen?
    Woher soll Prof Hildenbrand von seinen früheren Fehlern bei der Zwischenprüfung erfahren, wenn der neutrale Studienberater meines Hauptfachs vom Aufmucken abrät?
    Böse Absicht stand bei ihm sicher nicht dahinter, weshalb der angriffslustige Tonfall des Artikels nicht gerechtfertigt ist. Das Kernproblem liegt meiner Meinung nach darin, dass die Prüfungsbedingungen erst einmal überall eindeutig klar sein müssen. Und dass Studenten eine neutrale Stelle haben müssen, wo sie solche Probleme melden können (Checkt mal eure Emails der letzten Jahre, FSR SOZI!).
    Wer wie ich mit Ach und Krach wegen einem solchen Fehler noch irgendwie durch seine Prüfung gekommen ist, der legt sich nicht als erstes direkt mit dem Professor an, wie es das Prozedere nach der Klausureneinsicht vorsieht. Man hat ja nicht einmal eine aussagekräftige Prüfungsordnung, die einem Recht geben würde.

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