Franz Grillparzers “Medea” am Nationaltheater Weimar
Von Johannes Weiß
Willkommen im antiken Griechenland.                                              Foto: DNT/Thomas Aurin |
Ein guter Draht zum Publikum scheint Nora Schlocker sehr am Herzen zu liegen. In ihrer am 21. Februar erstmals gezeigten Inszenierung von Franz Grillparzers „Medea“ versucht die 25-jährige Hausregisseurin des DNT Weimar permanent, den Zuschauer ins Bühnengeschehen hineinzuziehen. Da klettern schon mal Schauspieler in die Sitzreihen oder mit Taschenlampen bewaffnete „Argonauten“ huschen durch den dunklen Zuschauerraum. Bereits vor Beginn des Stückes erwarten zwei seltsame Gestalten das langsam seine Plätze einnehmende Publikum: Ein schwarzgekleideter Mann steht auf einem kleinem Schrank und erregt durch schwingende Handbewegungen, aufheulenden Gesang und nicht alltägliche Grimassen Aufmerksamkeit; fasziniert sitzt ihm eine junge Frau zu Füßen. Konservative Theaterbesucher befürchten wohl schon das Schlimmste für die kommenden drei Stunden, doch klärt sich die sonderbare Situation schnell auf:
Wir befinden uns im Königreich Kolchis, und die beiden Darsteller entpuppen sich als die jugendliche Prinzessin Medea (Nicole Tröger) und die örtliche Gottheit Peronto. Während letztere in Grillparzers Text nur als „Bildsäule“ auftaucht, erscheint sie hier in Gestalt des Musikers Jens Thomas, der fortan die weitere Handlung mit Gesang und Geräusch begleitet. In der Anfangsszene zeigt sich zugleich, dass der Titel „Medea“ irreführend ist. Denn Schlocker bringt die gesamte Grillparzer-Trilogie „Das goldene Vließ“ auf die Bühne: vor der Pause die beiden in Kolchis spielenden Teile „Der Gastfreund“ und „Die Argonauten“, danach erst das eigentliche „Medea“-Trauerspiel mit dem Schauplatz Korinth.
Der ergreifende Gesang Perontos wird bald durch die Ankunft des Griechen Phryxus (Simon Zagermann) gestört, der den kolchischen König Aietes (Detlef Heintze) um gastliche Aufnahme bittet und dabei nur auf wenig Gegenliebe stößt. Zunächst wird der Fremdling aufgefordert, sein Schwert abzugeben – da er in der Inszenierung Schlockers gar kein Schwert, sondern nur ein Stoffschaf mit auf die Bühne gebracht hat, zieht er statt dessen eben einfach sein Hemd aus. Auch seine heimtückische Ermordung steht nicht ganz in Einklang mit dem Originaltext: Aietes umarmt ihn, bis das Theaterblut in Strömen hinabfließt.
Danach kommt nicht mehr allzuviel Neues. Einzelne Motive wie gerade das der Umarmung werden immer wieder aufgegriffen, und auch personell zeigt die Inszenierung Kontinuität: Der Darsteller des Phryxus kehrt als Jason nach Kolchis zurück, um den Mord zu rächen und das von Aietes geraubte Widderfell, das legendäre „goldene Vließ“, wiederzuerlangen. Auch Jens Thomas bleibt dem Publikum erhalten und untermalt in der Rolle des Musikers das Geschehen weiterhin singend und stöhnend. An einigen Stellen gelingt es ihm sogar, die psychologischen Tiefen und Untiefen der Handlung atmosphärisch einzufangen, etwa wenn Jason auf die inzwischen erwachsene Medea (Marie Burchard) trifft. Während sie sich küssen, verfällt der Musiker in eine Ekstase, die sowohl an den Rauschzustand eines altgriechischen Priesters als auch an den eines leidenschaftlich Liebenden erinnert.
Schließlich verlassen Jason und Medea samt Vließ das Königreich, während Medeas Bruder Absyrtus (Philipp Engelhardt) sich selbst tötet, um sich aus der Gewalt der Griechen zu befreien. Da der in Grillparzers Text vorgesehene Sprung von der Klippe den Bühnenbildner wahrscheinlich etwas überfordert hätte, zieht auch Absyrtus zur Kenntlichmachung seines Dahinscheidens einfach sein Hemd aus – man merkt schon, worauf es der Regisseurin ankommt – und verkriecht sich in die Zuschauerreihen. Das dramatische Pathos steigt also herunter zum Publikum, und der Alltag herauf zur Bühne: Während sich Aietes noch vor Schmerz auf dem Boden wälzt, tauchen bereits emsige Theatermitarbeiter auf, um das Blut aufzuwischen und die Kulisse für die nächsten Szenen in Korinth aufzubauen.
Nach der Pause kommen Jason und Medea mit ihren zwei Kindern und viel Gepäck genau dort an und werden von König Kreon (Christian Ehrich) und seiner Tochter Glauke (Xenia Noetzelmann) begrüßt. Der versnobte Monarch hat jedoch Vorbehalte gegen die „Barbarin“ Medea; diese setzt sich mit einem resoluten und mitunter cholerischen Auftreten zur Wehr. Dabei entschlüpfen ihr auch Wendungen, die so sicher nicht im Originaltext stehen, etwa wenn sie die um die Kinder bemühte Glauke anfaucht: „Sag mal, spinnst du?“ Medea gerät immer tiefer in die Außenseiterrolle; als sie ein Lied auf dem Cello spielen will, bleibt dieses stumm, während Glaukes Darbietung vom Gesang des Musikers begleitet wird.
Was jedoch die Figuren verbindet, ist das Gefühl der Ausweglosigkeit, das sich auch im Bühnenbild ausdrückt: einem geschlossenen Raum, in dem immer alle Personen anwesend sind, sogar die Kolcher und Griechen aus dem ersten Teil. Jason sieht nach Mordvorwürfen gegen Medea nur noch in der Heirat mit Glauke seine Rettung. Diese wiederum zeigt neurotische Züge, wenn sie sich blutig wäscht und verzweifelt gegen die Wand springt – hier zeigt sich der Einfluß Christa Wolfs, die in ihrem Medea-Roman Glauke als innerlich zerrissene Epileptikerin darstellt. Die vor der Verbannung stehende Medea wird indes zum Äußersten getrieben: In einer drastischen Szene hängt sie ihre eigenen Kinder an zwei von der Decke herabhängenden Haken auf, während gleichzeitig Glauke an einem vergifteten Kleid, Medeas Geschenk, zugrunde geht.
Nora Schlockers Inszenierung schafft es tatsächlich an einzelnen Stellen, den Zuschauer mitzureißen und in die musikalisch verdichtete Atmosphäre des Bühnengeschehens eintauchen zu lassen. Das gedankliche Konstrukt hinter den ausdrucksstarken Bildern erweist sich jedoch mitunter als brüchig, und weder die schreiende Medea noch die sich selbst verletzende Glauke eröffnen wirklich neue Sichtweisen auf Grillparzers Text. Wenn das Spektakel auf der Bühne beendet ist und der Zuschauer wieder in den Alltag zurückkehrt, fühlt er sich ein wenig wie Medea. Alleingelassen und ratlos.