“Ihre Position?”

Gianfranco Rosis Film Seefeuer zeigt die Flüchtlingskrise Europas in all ihrer Härte anhand ihres eindringlichsten Symbols: Der kleinen Insel Lampedusa.

Von Marleen Borgert

Menschen in weißen Schutzanzügen blicken schweigend auf die vor ihnen liegenden Leichen. Die Lebenden tragen Mundschutz, Handschuhe und Überschuhe. Sie atmen schwer; sie haben eine körperlich und geistig belastende Rettung hinter sich. Die Toten befinden sich in schwarzen Leichensäcken, nebeneinandergereiht auf dem verwittert grauen Militärschiff. In dieser Szenerie reicht es nicht aus, von Lebenden und Toten zu sprechen. Es sind die Überlebenden, die an einer anderen Stelle des Schiffes weinen.

Gianfranco Rosi erzählt in seinem sechsten Film Seefeuer Geschichten der Insel Lampedusa. Die 20 km² große, süditalienische Insel befindet sich in 130 km Entfernung zur tunesischen Küste im Mittelmeer und ist längst Symbol europäischer Politik im Umgang mit flüchtenden Menschen geworden. Rosi übergibt mit seinem Werk das dokumentierte Versagen humanitärer Hilfeleistung an die Zivilgesellschaft. Er glaubt selbst nicht, sein Film könne die Welt verändern, aber es sei möglich ein Bewusstsein zu schaffen. Der Dokumentarfilm wurde zu Recht bei den Internationalen Filmfestspielen 2016 in Berlin mit dem goldenen Bären als bester Film ausgezeichnet.

Der Titel Seefeuer ist in seiner Übersetzung aus dem italienischen Originaltitel Fuocoammare eine Kurzzusammenfassung des Dokumentarfilms. Es meint sowohl Leuchtturm als auch brennendes Meer, eine historische Brandwaffe, die nicht mit Wasser gelöscht werden konnte. Sinnbild der Orientierung und eine Form der Gewalt in einem Wort vereint; in einem Film verbildlicht. Rosi stellt Leben einander gegenüber, kontrastiert Situationen auf See und an der Küste. Er begleitet ein Marineschiff bei Einsätzen, klettert in den Laderaum eines gefundenen Schiffs, in dem sich Leichen stapeln. An anderer Stelle kocht eine Großmutter in ihrer Küche, die durch das Fenster nur spärlich vom wolkenverhangenen Himmel erleuchtet wird.

Um die Bewohner der Mittelmeerinsel authentisch abbilden zu können, lebte Rosi über ein Jahr selbst auf dieser. Er wird mit Gegebenheiten belohnt, die den Film mit einschlägigen Metaphern füllen. Unter anderem lernte er Samuel kennen. Der Zwölfjährige schießt in seiner Freizeit mit einer selbstgebauten Schleuder auf Vögel. Er zielt nur mit dem rechten Auge und kneift das linke zu, weil er auf dem trägen Auge nur unscharf sehen kann. Auch die Europäische Gemeinschaft vergisst ihre Blindheit leicht, ist die Botschaft. Samuel will später einmal wie sein Vater Fischer werden; deshalb gewöhnt er auf dem Steg seinen Magen an unruhigen Wellengang und übt ein Ruderboot zu steuern. Sein Vater erzählt ihm, dass es kein schönes Leben war, in dem er immer wieder acht Monate nur auf Deck verbracht hat, ohne einen Fuß an Land setzen zu können.

Dass Lampedusa traditionell von der Schifffahrt lebt, ist hingegen ein Segen für die Flüchtlinge, denn „Lampedusa ist ein Ort der Fischer und Fischer akzeptieren immer alles, was über das Meer kommt.“, wie Rosi die Worte Dr. Pietro Bartolos, des Arzts auf Lampedusa, wiedergibt. Neben Dr. Bartolo sind auch andere Bewohner Lampedusas angesichts der Ertrinkenden nicht abgestumpft. Eine ältere Dame äußert per Telefon Musikwünsche bei einem Radiosender und widmet die romantischsten ihrem Mann. Die vom Sender gespielte Musik ist die einzige, die im Film Verwendung findet. Beim gleichen Sender hört sie auch von erneuten gescheiterten Versuchen, die Insel zu erreichen. „Diese armen Seelen“, kommentiert sie.

Nachts, wenn die Scheinwerfer über das Wasser schweifen, ist keine Seele in Sichtweite. Über Funk gehen Notrufe ein. Quälend häufig ist das Militär gezwungen nach der Position eines sinkenden Schiffs zu fragen, weil der Mann am anderen Ende in einem Schwall von Worten mit gebrochener Stimme um Hilfe fleht. So oft, dass nach dem letzten Mal eine Stimme im eigenen Kopf widerhallt: „Your Position?“, bis sich die Realität in einer grausamen Ahnung niederschlägt, dass dieser Mann und mit ihm ein ganzes Schiff voller Menschen wohl nicht gerettet werden konnte.

Dr. Bartolo, Arzt und Moral der Dokumentation, untersucht diejenigen, die geborgen werden, tot oder lebendig. Dabei hat er schon viele Leichen untersuchen müssen; zu viele vielleicht, wie er selbst sagt. Mit aufopfernder Hingabe an seine Arbeit führt er aber auch Ultraschalls an schwangeren geflüchteten Frauen durch und bestimmt mit ewiger Geduld das Geschlecht ihrer Zwillinge. „Jeder, der von sich selbst behauptet, ein Mensch zu sein, hat die Pflicht, diesen Leuten zu helfen.“ Dieser Appell ist Essenz und Lichtblick der Dokumentation, denn einerseits verweist er auf die Verantwortung und andererseits eröffnet er, dass es möglich ist, Hilfe zu leisten. Seefeuer ist eine Form der Hilfeleistung; ein künstlerischer Beitrag, den es zu sehen und würdigen lohnt.

 

Seefeuer (Org: Fuocoammare)

 

Foto: Weltkino Filmverleih

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