Die Ungewollte

Jenas erste Professorin Mathilde Vaerting im Porträt

von Christoph Renner

In Jena gibt es, fernab vom Fürstengraben, an dem die Büsten der großen Männer der Universität stumm Kopf an Kopf stehen, eine Mathilde-Vaer­ting-Straße. Wer war diese Frau? 1884 geboren, feministisch, revolutionär, eigensinnig und Zeit ihres Lebens unverheiratet. Die erste Jenaer Professorin ist in ihrem Leben und Wirken ständig in Konflikt mit dem bestehenden System geraten.

Erst seit 1908 ist es Frauen in Preußen erlaubt, als Studierende eine Universität zu besuchen. Doch bereits zum Wintersemester 1907/08 nimmt Mathilde Vaerting ihr Studium in den Fächern Mathematik, Philosophie, Physik und Chemie auf. und beweist damit früh die Bereitschaft, sich über gesellschaftliche Konventionen hinwegzusetzen.

Im Jahr 1911 zieht es sie nach Berlin. Dort arbeitet sie als Lehrerin an einer höheren Mädchenschule. 1913 veröffentlicht Vaerting ihre pädagogische Arbeit Die Vernichtung der Intelligenz durch Gedächtnisarbeit. „Gedächtnisarbeit auf einem Gebiet, das nicht interessiert, ist Prostitution der Intelligenz“, schreibt sie darin. In dieser Arbeit stellt sie verbreitete Lehrmethoden in Frage und fordert eine zunehmende Gleichberechtigung zwischen Lehrenden und Lernenden.

„Der sexuelle Fanatismus der Bewerberin hat beinahe etwas Belustigendes.“

Im Juni 1919 beantragt sie an derFriedrich-Wilhelm-Universität in Berlin die Zulassung zu einer Habilitation, in der sie sich mit Geschlechterpsychologie auseinandersetzen will. Sie wird durch den Psychologieprofessor Carl Stumpf mit süffisantem Kommetar abgelehnt: „Dass sie das Urteil einer nur aus Männern bestehenden Fakultät anerkennen werde, dürfen wir freilich nicht hoffen.“
Der Mediävist Gerhard Roethe drückt sich schärfer aus: „Der sexuelle Fanatismus der Bewerberin hat beinahe etwas Belustigendes. Einfaches Denken und breitsperrige selbstgefällige Darstellung feiern Orgien. Natürlich bin ich unbedingt für Ablehnung.“

Sie aber veröffentlicht weiter Forschungsliteratur über Bildungsfragen und zum Geschlechterverhältnis. Über die Schulbildung schreibt sie: „Jede Berücksichtigung des Geschlechts führt zu einer Verkürzung des Individuums.“

1921 kommt der erste Band ihrer Studie Die Neubegründung der Psychologie von Mann und Weib heraus. Sie beschreibt darin die Differenzen zwischen den Geschlechtern als reine „Machtakte“ einer männlich geprägten Gesellschaft.

Die Unterschiede zwischen Geschlechtern entstünden durch Erziehung und Sozialisation. Thesen, die ähnlich auch in der 2008 erschienen Einführung in die Gender Studies von Franziska Schößler zu finden sind. Vaertings provokantes Werk macht sie schnell bekannt und verschafft ihr überdies zahlreiche Feinde.

Ungeliebtes Kind der Alma Mater Jenensis

Am 1. Oktober 1923 wird Mathilde Vaerting zur ordentlichen Professorin für Erziehungswissenschaften an der Thüringischen Landesuniversität Jena ernannt – gegen den Willen der Universität. Der Senat hatte keinen Lehrstuhl für die neu gegründete pädagogische Fakultät gewollt, und schon gar keine Professorin. Der sozialdemokratische Minister für Volksbildung, Max Greil, hatte sich für die Berufung eingesetzt. Bereits im Februar 1924 kommt in Thüringen eine bürgerliche Regierung an die Macht und prompt überlegt man einen „Abbau“ Vaertings. Kaum im Amt, wird sie ständig in Frage gestellt.

Die Zeit ihrer Professur ist von massiven Widerständen durch ihr Umfeld geprägt. Vaerting erweist sich überdies als ungeschickt im Konflikt, provoziert das Anecken bisweilen auch um des Aneckens willen.

Ihren Wohnort will sie nicht preisgeben, was das Thüringer Finanzministerium auf den Plan ruft. In einem Brief an das Amt erklärt sie die Geheimhaltung ihres Wohnortes mit der völlig abstrusen Geschichte eines seit dem Krieg psychopathischen Verwandten, von dem sie befürchte, dass er sie aufsuchen könne. In den letzten Zeilen kann sie sich die folgende Provokation nicht verkneifen: „Ich bemerke noch, dass der Verwandte sowohl wie der Schwiegervater der Deutschnationalen Partei angehören.“

Der Senat verweigert ihr die Einsetzung in der Prüfungskommission, aber bei den Konflikten, die sie anstößt, handelt es sich oft auch um scheinbare Kleinigkeiten: spät abends gehaltene Vorlesungen, Öffnungszeiten des Instituts und Weihnachtszuschüsse.

Vergeblich versucht sie 1927 nach Berlin zu wechseln. Es kommt zu zahlreichen Ehrengerichtsverfahren wegen Beleidigungen gegen andere Professoren.

„Feminismus unter dem Deckmantel der Wissenschaft“

Der Zoologe und Antisemit Ludwig Plate, bringt 1930 gar eine Schmähschrift unter dem Titel Feminismus unter dem Deckmantel der Wissenschaft gegen sie heraus. Er spricht damit die einhellige Meinung der Professorenschaft aus, welche die fachliche Eignung Vaertings immer wieder anzweifelt. Sie sei „nur berufen worden, weil sie radikale Ansichten vertritt“.
Was rückwärtsgewandten Professoren versagt bleibt, gelingt den Nazis: Am 29. April 1933 wird Mathilde Vaerting im Zuge des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums mit sofortiger Wirkung beurlaubt und wenig später offiziell entlassen, „weil Prof. V. nicht die Gewähr dafür bietet, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintritt“, heißt es in einem Aushang.

In einem Brief wendet sie sich an den Rektor der Universität, in dem sie mit nationalsozialistischen Anhängern droht, die dem Minister in Berlin von „nichtarischen“ Professoren berichten könnten. Wohl ein verzweifelter Versuch, der Entlassung doch noch zu entgehen: Ausgerechnet sie, die eben von den Nazis entlassen wurde, droht nun damit, „nichtarische“ Kollegen zu verraten.

Ihrer Zeit weit voraus

In der Wissenschaft wird Vaerting auch nach dem Krieg und bis zu ihrem Tod nie wieder Fuß fassen, zahlreiche Bewerbungen auf eine Professur in der Bundesrepublik scheitern. Ihre Werke finden bis heute kaum Beachtung.

Und das, obwohl ihre Studien zur Geschlechterpsychologie in den 1920er Jahren ihrer Zeit weit voraus und auch nach heutigem Stand noch als durchaus modern zu bewerten sind.
Viel Potential ist verloren gegangen, weil man es einer Frau in der Wissenschaft in drei verschiedenen politischen Systemen so schwer gemacht hat wie nur möglich. Verschenktes Potential ist sicher, neben der simplen Frage nach Gerechtigkeit, das wichtigste Stichwort, wenn es heute um die Unterrepräsentation von Frauen in Spitzenpositionen geht.

Foto: Universitätsarchiv Bielefeld

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