Ein Gespräch über die heftigen Proteste der chilenischen Studenten
Das Gespräch führte Johanne Bischoff
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Mit dem Rücken zur Wand – Polizei in Aktion.Foto: flickr.com/Diego Martin |
Naby Berdjas ist Student der Soziologie in Jena. Eigentlich hatte er geplant, ein Auslandsjahr an der Universidad de Chile zu absolvieren. Nach drei Monaten gab er dieses Vorhaben auf: Seine Fakultät bot keine Veranstaltungen mehr an. Die chilenischen Studenten streiken seit einem halben Jahr.
Mit Akrützel sprach er über die Proteste, Tränengas und die Macht des studentischen Aufstandes.
Warum hast Du Dich entschieden, zwei Auslandssemester in Chile zu verbringen, und welche Erwartungen hattest Du?
Ich wollte gerne nach Südamerika. Ich wollte Beobachtungen machen in einem Land, das man vielleicht als Peripherie des kapitalistischen Westens bezeichnen könnte. Und ich wollte in Santiago wohnen – also eine metropolitane Stadt erleben – da es mir manchmal paradox erscheint, in einer kleinen Stadt wie Jena SozioÂlogie zu studieren, die Wissenschaft der Moderne.
Wie war die Situation bei Deiner Ankunft?
Ich bin Mitte Juli in Chile angekommen. Da wusste ich, dass es Studierendenproteste gibt. Das erste Studienhalbjahr des akademischen Jahres 2011 ist bis jetzt immer noch nicht zu Ende gegangen und das zweite hätte Ende Juli anfangen müssen. Die Universidad de Chile hatte ein Rundschreiben an die Austauschstudierenden gesendet. Ich hatte die Information, dass es zu „Unregelmäßigkeiten“ kommen könnte. Ich dachte nur, dass immer mal was ausfallen würde.
Das ist eine ziemlich deutsche Herangehensweise, oder?
Da war ich wohl durch die krasse Funktionalität der Uni hier verwöhnt. Ich habe bei „Unregelmäßigkeiten“ nicht an Totalausfall gedacht.
Die Fakultät für Sozialwissenschaften bietet Anthropologie, Psychologie, Soziologie und Pädagogik an und ist eine der Keimzellen des Protests. Die einzige, die noch militanter ist, ist die Philosophische Fakultät.
Wofür setzen sich die Studenten ein?
Die Maximalforderung ist, Bildung für alle kostenlos zugänglich zu machen. Momentan wird Bildung einzig über das ökonomische Kapital vermittelt. Wer sich eine gute und damit sehr teure Privatschule leisten kann, hat dann Chancen, auf eine gute, staatliche Universität zu kommen. Es klingt paradox, aber nur in den Privatschulen werden die Schüler so auf die Abschlussprüfungen vorbereitet, dass sie die Zulassungsbeschränkungen erfüllen können.
Die staatlichen Schulen sorgen nicht dafür, dass man einen guten Abschluss schaffen kann. Nichtsdestotrotz kosten auch staatliche Universitäten unheimlich viel Geld. Bildung wird in Chile als Ware verstanden. Die Studiengänge kosten unterschiedlich viel: Soziologie umgerechnet 4.000 Euro im Jahr, Medizin und Jura 6.000 und mehr. Wer nicht an eine gute staatliche Uni kommt, muss sich eine private leisten – die nehmen alle an. Ich habe gehört, dass sie die Studierenden regelrecht ausbeuten: viel Geld nehmen und Titel versprechen, die auf dem Arbeitsmarkt dann nichts wert sind. Trotzdem nehmen viele einen Kredit auf und gehen an diese Privatunis, weil es für sie die einzige Möglichkeit ist, überhaupt zu studieren.
Momentan machen Universitäten immer einen Gewinn. Sie werden geführt wie Unternehmen. Auch dagegen protestieren die Studierenden.
Welche Chancen rechnen sie sich für die Umsetzung ihrer Forderungen aus?
Ihnen ist bewusst, dass sie das alles noch nicht durchbekommen können. Aber sie wollen jetzt ein prinzipielles Zeichen setzen. Die chilenische Regierung ist wirtschaftlich extrem neoliberal und ansonsten eher mitte-rechts einzuordnen. Bildung, wie sie jetzt in Chile funktioniert, wirkt als Katalysator der gesellschaftlichen Ungleichheit. Und deswegen ist es ein politisch hart umkämpfter Schauplatz.
Gehen die Proteste auch von den Lehrenden aus?
Das ist das Spannende. Sie empfinden es auch als Bewegung der neuen Generation. Die Lehrenden stehen auf der Seite der Studierenden. Man kann die Positionierung Uni gegen Staat sehen. So wie ich es mitbekommen habe, gibt es bei den Lehrenden aber nicht diesen Aktivismus. Sie gehen mit zu den Demonstrationen, organisieren aber nicht. Vielleicht sind sie auch froh, keine Lehre machen zu müssen, sondern sich auf ihre Forschung konzentrieren zu können.
Was hast Du gemacht, als Dir klar geworden ist, dass es mit dem Studieren erst mal nichts wird?
Das hat mich wahnsinnig frustriert. Klar hätte man dann einfach reisen können, aber das wollte ich nicht.
Ich habe dann angefangen, mich mit der Situation zu beschäftigen und bin zu den Plena der Studierenden gegangen. Das war extrem gut organisiert. Die Gruppen sind nach Studiengang und Semesterzahl aufgeteilt, weil es sonst zu viele wären. Dann wurden bestimmte Fragen diskutiert und abgestimmt. Die Ergebnisse werden dann später alle zusammengetragen und addiert. So wird festgelegt, ob weiter gestreikt wird oder nicht.
Die basisdemokratische Rückkopplung ist enorm. Und es kommen immer viele Studierende zu den Treffen, obwohl sie von sich sagen, dass sie eine Minderheit seien. Aber bei den Demos waren bis zu 170.000 Menschen. Das sind dann nicht nur Studierende – das geht durch die ganze Gesellschaft.
Ist die Solidarität in der Gesellschaft groß?
Ja, die ist stark, obwohl es eine polarisierte Gesellschaft ist: Der eine Teil sagt, dass das endlich aufhören soll und das Militär auf die Straße muss, um für Ordnung zu sorgen. Der andere Teil hat ein sehr affirmatives Verhältnis zur Studierendenbewegung. Er sieht es als gesamtgesellschaftliches Problem. Deshalb kam es auch schon zum Generalstreik, an dem aber aus Angst vor persönlichen Folgen zu wenige teilnahmen.
Die Vernetzung der Studierenden existiert sogar auf nationaler Ebene. Dort treffen sich die studentischen Vertreter und tragen alles zusammen. Sie haben aber keine Entscheidungsgewalt. Vorschläge und mögliche Entscheidungen werden immer wieder an die Basis zurückgetragen und von dort wieder an die Vertreter übermittelt. Die treten dann mit der Regierung in Verhandlung. Diese Gespräche waren aber sehr statisch, weil keine der beiden Seiten von ihrem Standpunkt abgerückt ist.
Gibt es Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizisten?
Insgesamt kommt es oft zu heftigen Ausschreitungen. In Chile gibt es keine zivile Polizei – außer der Kripo. Die ins Militär integrierte Polizei liefert sich sehr oft Straßenschlachten mit den Protestierenden. Bei den Generalstreiks sind so heftige Ausschreitungen zustande gekommen, dass zwei Jugendliche getötet wurden. Die beiden sind in einem Außenbezirk in der Nähe des Flughafens erschossen worden. Die Polizei dementiert, dass sie etwas damit zu tun hat und spricht nur von „abgegebenen Warnschüssen“.
Hast Du auch an Demonstrationen teilgenommen?
Ich war in Santiago de Chile selbst auf zwei oder drei Demos. Die Kundgebung war wie ein Karnevalsumzug. Trotzdem war von Anfang an klar, dass es am Ende zu Ausschreitungen kommen wird. Man ist dann zwei, drei Stunden durch die Gegend gelaufen, und als die ersten Tränengaswolken aufgestiegen sind, bin ich immer gegangen. Als Ausländer muss man aufpassen: Wenn man auf Demonstrationen festgenommen wird, kann man – zumindest offiziell – des Landes verwiesen werden. Ich habe mich auch oft eher als Beobachter und weniger als Beteiligter gefühlt.
Tränengas kommt ziemlich häufig zum Einsatz. Und das Wasser aus den Wasserwerfern wird mit Chemikalien versetzt, welche Verbrennungen ersten Grades auf der Haut verursachen. Die Fotos von den Verletzungen sind wirklich schlimm.
Auch wenn Du früher nach Jena zurück gekehrt bist: Würdest Du sagen, dass Du eine neue Perspektive einnehmen konntest?
Ich war auf dem Kongress in Valparaiso. Dort fand dann das statt, was ich bis dahin vermisst habe, nämlich eine sozialwissenschaftliche Einordnung oder Analyse der Bewegung. Gerade ist alles so lebendig, dass die Reflexionsebene gefehlt hat.
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„Wir verharren nicht mit verschränkten Armen, während andere die Geschichte schreiben.“Foto: flickr.com/Carol Crisosto Cadiz |