Siehst du den Mond über Soho?
Von Louisa Reichstetter
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Foto: Bernd Uhlig/DNT Nationaltheater Weimar inszeniert Brecht als russisches Musical |
„Dawai!“ Polly Peachum hat hinter dem Rücken ihrer Eltern, eines zwielichtigen Londoner Geschäftspaars, einen noch zwielichtigeren Konkurrenten geheiratet.Dafür wird sie nun mit russischen Imperativen von der Bühne gescheucht. Was Polly, die ihre Liebe selbstbewusst verteidigt, nicht weiß: Ihr Angebeteter Mackie Messer lässt nicht nur sie erbeben, sondern versetzt alle weiblichen Wesen – von Königin bis Hure – in einen erregten Schwebezustand unberechenbarer Handlungsfreudigkeit.
Die „Dreigroschenoper“ mit Bert Brechts eingängigen Versen und Kurt Weills mitreißender Mischung aus Neuer Musik, Jazz und Tango wird in den Statistiken als das erfolgreichste deutschsprachige Bühnenstück geführt – und es lehnt sich bekanntlich schon sehr nah an John Gays seit 1728 nicht minder beliebte „Beggar‘s Opera“ an: Doch Verflechtungen von Geld, Macht und Liebe sind eben von zeitloser Anziehungskraft.
Das DNT siedelt die Story um einen Haufen Hintertriebener aus Soho nun etwa Mitte der neunziger Jahre an, als London nach dem Zusammenbruch der SowjetÂunion zum Brennpunkt russischer Geschäftemacher wurde. Doch damit tritt das erste Problem der Inszenierung auf: Als Zeichen der Russenmafia sind die Schauspieler nicht nur tätowiert, sie fallen auch oft ins Russische – teils sätzeweise. Das spaltet das Publikum nicht nur in Ost- und Westdeutsche, sondern vor allem in Generationen, weil nur Ältere wissend lachen.
Ein zweiter Grund, weshalb diese Dreigroschenoper ganz nett, aber nicht beeindruckend gerät, klingt zunächst paradox: Alle Schauspieler können wirklich singen. Bis in die Nebenrollen treffen sie die Töne, sprechen die Phrasen penetrant exakt mit den Konsonanten ab und trällern auch in der letzten der drei Stunden noch ohne Ermüdungserscheinungen – als wären sie hoch bezahlte, aber seelenlose Profis der 3500. Aufführung von „Starlight Express“ oder unter den letzten 20 von „Deutschland sucht den Superstar“. Man hätte mit Brecht versuchen können, solche Kategorien zeitgenössischer Unterhaltung zu karikieren. Die Idee, Mackie als gegelten Twentysomething mit Migrationshintergrund zu zeigen, statt als kantigen Unterweltboss, ist nicht schlecht – wird aber nie ausgespielt. Im Gegenteil, man wird das Gefühl nicht los, dass von Claudia Meyer (Regie) über Felix Ensslin (Dramaturgie) bis Florian Jahr (Mackie Messer) alle ambitioniert unterhalten wollen: mit schmissigen Weill-Songs, wohltemperierten Sexszenen und vorhangsloser Neureichenästhetik – auf hohem Fernsehniveau wie ein Tatort oder ein eloquenter Jugendfilm (übrigens Produktionen, für die Jahr bisher zurecht gefeiert wurde). Wem das reicht, der hat ein Weihnachtsgeschenk für Verwandte gefunden. Wer sich jedoch Anregungen zur „kritischen Reflexion“ erhofft, wie Brecht sie theoretisch forderte, der verlässt den samtenen Sessel unbefriedigt, weil man auf die Kraft des modernen Theaters – die Reduktion – hier mutwillig verzichtet.
Auch von Brechts Marxismus bleiben maximal Refrains in den Köpfen hängen. Wurde in den legendären Inszenierungen der Weimarer Republik angeblich jeder Satz beklatscht, brandete in Weimar nun einmal Szenenapplaus auf, als Mackie Messer kurz vor seiner Hinrichtung auch für den Letzten erkennbar den Kapitalismus kritisch besang: „Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ Es klatschten Reihen, in denen Karten um die 50 Euro kosteten, und Hände, die seit Jahren vergeblich darauf warten, den nächsten Rentenerhöhungsbescheid aus dem Briefkasten zu ziehen. Immerhin waren sich zwei der vielen vergnügten älteren Damen nachher einig: „Der Mackie war ein Hübscher! Und der konnte so gut singen!“
Stimmt, Meyers Mackie war fesch, sang sicher. Und wirkte dabei erschreckend zeitgenössisch: ein Spiegelgrinser. Wie langweilig.