Eine unpolitische Revolution?

Ganz Serbien ist auf der Straße – gegen die Regierung von Aleksandar Vučić. Die Proteste werden von den Studierenden angeführt: Sie kämpfen für die Durchsetzung des Rechtsstaats. Warum können sie so viele Menschen hinter sich vereinen?

Vor sechs Monaten stürzte eine Welt zusammen. Es hat in Deutschland nur niemand mitbekommen. An einem Novembernachmittag fällt das Vordach des Bahnhofs von Novi Sad in sich zusammen. Das Dach der zweitgrößten Stadt Serbiens soll gerade neu renoviert worden sein. Es sterben 16 Menschen. Es ist der Startpunkt für die größte Protestwelle, die das Land seit zwanzig Jahren erlebt hat. Vor allem die serbischen Studierenden treffen sich in den darauffolgenden Wochen jeden Freitag um 11:52 Uhr, um für 15 Minuten der Opfer zu gedenken. Aber nicht nur die Überlebenden des Unglücks fragen sich: Wie kann ein gerade renoviertes Dach einstürzen?

Präsident Aleksandar Vučić behauptete öffentlich, das Dach sei von den Renovierungsarbeiten ausgelassen worden. Ein Ingenieur beteuert, dass er die Behörden schon Monate zuvor auf die Einsturzgefahr des Gebäudes hingewiesen habe. Viele Serb:innen sind sich sicher: Da ist Korruption im Spiel gewesen.

Das System Vučić

Serbien ist von Korruption zerfressen. Wenn man die richtigen Kontakte und genügend Geld hat, könne man alles bekommen, erzählt Raoul, Doktor der Politikwissenschaft, der lange an der Uni Kragujevac in Serbien gearbeitet hat.
Das Germanistische Institut in Kragujevac habe zum Beispiel keine eigenen Räume gehabt. Deshalb hätte man Räume bei anderen Instituten mieten müssen. Eigentlich habe es einmal Geld gegeben, um sich eigene Räume anzuschaffen, erzähle man sich. Irgendwo muss es versickert sein.

Das Land ist außerdem von organisierter Kriminalität durchzogen. Wo der Staat anfängt und aufhört, ist schwer zu überblicken. Die Kontakte der Mafia würden bis in den Geheimdienst und die Regierung reichen – und wieder zurück. Auch dem Präsidenten Vučić wird die Verbindung zu kriminellen Hooligan-Gangs nachgesagt. Jedenfalls stellten Mitglieder einer Bande beispielsweise die Sicherheitsmänner seiner Amtseinführung im Jahr 2017.

Serbien hat zwar eine Verfassung mit Gewaltenteilung. Die Regierungspartei sei aber überall, sagt Marco, der in Serbien geboren wurde und in Jena studiert hat. Auch Raoul erzählt von Studierenden, deren Eltern angerufen wurden: Ob sie sich nicht vorstellen könnten, dass ihre Kinder der Partei beitreten? Alles nach dem Motto: Wer seine Position der Regierung verdankt, muckt nicht auf.

Alle Serb:innen, mit denen man spricht, erzählen von toten Menschen, die immer noch wählen. Die Toten wählen natürlich Vučić. Wahlfälschung ist eines der offenen Geheimnisse Serbiens. Vučić kontrolliert außerdem de facto die Medien. Das Privatfernsehen ist zwischen zwei großen Medienunternehmen aufgeteilt. Ihr größter Werbekunde im Jahr 2023 war die serbische Regierung.

Während sich eine Elite bereichert, sinkt der Lebensstandard der Serb:innen seit Jahren. Das Land litt an einer Hyperinflation und einem Embargo in den Neunzigern. Es wurde im Kosovokrieg von der NATO bombardiert und durchstand neoliberale Wirtschaftsreformen. Während Corona stieg die Inflation wieder auf 19 Prozent.

Unis besetzt

Der Einsturz des Daches in Novi Sad und die Trauer um die Opfer entfachten die aufgestaute Wut. Serbien war an große Proteste gewöhnt, aber nicht an solche: Studierende besetzten ihre Unis und gingen nicht mehr zu ihren Veranstaltungen. Sie blockierten Straßen, Plätze und Brücken. „Die ersten Wochen haben die Menschen auf dem Land gar nichts von den Protesten mitbekommen“, sagt Aleksandra, die Germanistik in Kragujevac studiert. „Die Medien haben uns einfach ignoriert.“ Im Winter marschierten die Studierenden von Dorf zu Dorf, und ein sehr großer Teil der Bevölkerung schloss sich den Protesten an.

Am 15. März 2025 gingen in der Hauptstadt Belgrad mehr als hunderttausend Menschen auf die Straße: Studierende in grünen Westen, Landwirt:innen mit Traktoren, Kommunist:innen, Familien und Rechtsextreme. Sie bilden ein Lichtermeer mit ihren Handytaschenlampen. Ihr Zeichen ist der rote Abdruck zweier Hände, die serbische Flagge ist überall.

Oppositionsparteien sind nirgendwo zu sehen. Die Studierenden wollen nicht mit ihnen zusammenarbeiten. Denn die Opposition ist in Serbien diskreditiert. Man bekomme das Gefühl, dass Oppositionsparteien eher von der Regierung aufgebaut würden, um die Erzählung der Demokratie aufrechtzuerhalten, sagen sowohl Aleksandra als auch Raoul. Und dann würden sie in Medienkampagnen in den Schmutz gezogen.

Man kann es sich kaum vorstellen: Die Studierenden in Serbien wählen die gleichen Mittel wie Klimakleber. Sie blockieren die Straßen. Aber anders als in Deutschland können sie auf die Unterstützung der Bevölkerung bauen.
„Die Forderungen der Studierenden sind apolitisch“, meint Nikola Vujčić, Professor und Mitglied der Freien Universität Kragujevac, die Vernetzung der streikenden Wissenschaftler:innen. Die Studierende Aleksandra weiß nicht, ob die Aktivist:innen an ihrer Fakultät eher links oder rechts sind. Sie seien gegen das System.
Die Proteste in Serbien sind im reinsten Sinne des Wortes populistisch. Die Bevölkerung erhebt sich gegen die Elite, aber eine politische Färbung findet nicht statt. Die Proteste sind weder Klassenkampf noch reaktionär, sie wollen nur den vermeintlichen Status quo wiederherstellen: einen Rechtsstaat ohne Korruption. Dass Menschen sich über alle politischen Lager und Schichten hinweg derselben Masse zugehörig fühlen, liegt für Vujčić auch daran, dass die Forderungen der Studierenden sehr offen gehalten sind. Davon gibt es sechs offizielle – und keine davon fordert explizit den Rücktritt Vučićs oder seiner Regierung, sondern die Aufklärung des Einsturzes.

Wie wichtig der scheinbar einstimmige Wille des Volkes für die Legitimation der Proteste ist, zeigt sich auch daran, wie Vučić versucht, diesen zu brechen: Er inszeniert ein Gegenvolk. Vučić lädt seine Unterstützer:innen ein, vor dem Parlament zu zelten und schafft eigens dafür große Zelte heran. So, als ob das Volk eigentlich auf seiner Seite steht.

Eine Rätedemokratie?

Die Studierenden bilden den Kern der Bewegung für den Rechtsstaat. Sie organisieren sich selbst. An jeder Fakultät gibt es ein Plenum, in dem sich jede Woche ungefähr 30 bis 40 Studierende treffen. Die eigentliche Arbeit passiert in den Arbeitsgruppen – zum Beispiel für Kommunikation, Sicherheit oder Proteste. Wie gehandelt wird, wird im Plenum entschieden. Jede anwesende Person darf abstimmen. Wer zu „Rechtsruck stoppen“ in Jena geht, kennt es nicht anders. Jedes Fakultätsplenum schickt Abgeordnete in ein Uni-übergreifendes Koordinationsgremium, das wiederum mit anderen Universitäten vernetzt ist. Außenstehende und Nicht-Studierende seien aber nicht erwünscht, sagt Aleksandra.

Die Proteste haben viel erreicht: Mehrere Politiker:innen mussten ihre Posten räumen, sogar der Ministerpräsident Miloš Vučević trat im März zurück. Präsident Vučić musste sich deshalb zwischen vorgezogenen Neuwahlen und einer neuen Regierungsbildung entscheiden – und entschied sich für Letzteres. Für Vujčić ist das ein Zeichen, dass sich nicht mal mehr Vučić sicher ist, ob er eine Wahl durch Betrug gewinnen könnte. Außerdem wurden mehrere Personen angeklagt, die für das Unglück in Novi Sad verantwortlich gemacht werden. Anfang April blockierten die Aktivist:innen einen Nachrichtensender in Belgrad, der deshalb seine Sendezeit an einen Privatsender abgeben musste.

Protestwelle flacht ab

Die Bewegung konnte zwar über sechs Monate ihr Momentum behalten, doch die Regierung schlägt zurück. „Die Situation ist gar nicht so rosig“, sagt Vujčić. Eigentlich sollen 50 Prozent der Arbeitszeit jeweils zur Hälfte für Lehre und Forschung genutzt werden. Die Regierung setzte jedoch das Pensum für die Lehre auf 80 Prozent. So konnte der Staat den streikenden Uni-Angestellten das Gehalt um 80 Prozent kürzen – denn es finde ja keine Lehre statt.
Viele Studierende sind vom sogenannten Budget abhängig, dem serbischen Äquivalent zu Bafög. Um dieses weiterhin zu bekommen, hätten sie eigentlich im April und Mai Prüfungen ablegen müssen.

Für immer mehr Menschen stellt sich deshalb die Frage, wie lange der Protest noch andauern kann. Seit dem Höhepunkt im März flacht die Protestwelle ab. Immerhin hat man viel erreicht. Vujčić verdient sein Geld jetzt als Übersetzer und Nachhilfelehrer für Schüler:innen. Er sei bereit, Einbußen hinzunehmen. Aber nicht allen falle der Wechsel so leicht. Aleksandra sagt: „Wir wissen, worauf wir uns eingelassen haben.“

Die nächsten Wahlen kommen erst im Jahr 2027. Bis dahin ist es noch eine sehr lange Zeit, in der man die Bewegung aufrechterhalten muss. In den Plena suche man deshalb nach einer neuen Taktik. Mehr dürfe sie nicht erzählen, sagt Aleksandra. Vujčić hat Gerüchte aufgeschnappt: Man diskutiere jetzt, doch an einer Wahl teilzunehmen. Dafür brauche man aber konkrete politische Ideen – und einen Umgang mit den Oppositionsparteien.
Bis jetzt verlassen sich die Studierenden noch auf den mächtigen Rückhalt aus der Bevölkerung. Aleksandra ist sich sicher, dass die Bewegung gewinnen wird: „Ich habe keine Angst.“

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