Ich darf nicht lügen

Ist ein Tag ohne Lügen wirklich möglich? 24 Stunden ungeschonte Wahrheit im Selbstversuch.

Von Jessica Bürger

Am Morgen…
„Haben Sie die 24 Cent klein?“ Die Kassiererin im Lidl sieht mich mit hochgezogener Augenbraue an. Ein Blick in mein Portmonaie zeigt mir einen See aus kupferfarbenen Münzen und ich schiele auf die endlos lange Schlange hinter mir.
Englische Wissenschaftler fanden heraus, dass die kleinen Flunkereien des Alltags in den unscheinbaren Floskeln liegen. Gerade Notlügen, die von vielen gar nicht als Unwahrheit angesehen werden, werden oft und meist unbewusst angewendet. Wir benutzen sie, um in prekären Situationen höflich zu bleiben oder eine Beziehung zu schonen – das sogenannte prosoziale Lügen. Ab und zu auch aus Feigheit oder Faulheit, aber am seltensten aus Bosheit. Wir Lügen der Harmonie wegen.
Nun verbindet mich nicht einmal Zuneigung mit der Kassiererin und die Harmonie im Einkaufsmarkt ist mir schlichtweg egal. Da sich mir, nach diesen eher niederschmetternden Fakten über Notlügen, jedoch die Frage gestellt hat, ob man einen Tag lang ohne eine einzige (Not-)Lüge aushält, beginne ich sehr geduldig und zum Leid der anderen Käufer, die 24 Cent abzuzählen. Denn ab jetzt gilt: Ich darf nicht lügen.

Am Mittag…

In einem meiner Pflichtseminare geht die Anwesenheitsliste rum und ich sehe, dass meine letzte Fehlstunde nicht eingetragen wurde. Theoretisch könnte ich meine Unterschrift noch nachtragen. Einfach das Kürzel hinein, die Liste weiterschieben und nach fünf Minuten ist der kleine Schwindel wieder vergessen. Da ich jedoch nicht lügen darf, mache ich einen Strich bei meiner Fehlstunde und unterschreibe nur für den heutigen Tag. Ein wenig bedauere ich es dennoch. Vielleicht hätte sich eine weitere Fehlstunde irgendwann noch einmal gelohnt und mein Professor hätte es wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, wenn ich mich nachgetragen hätte.
Doch die Universität, bei manchen früher auch die Schule, und der Beruf sind drei Institutionen in unserer Gesellschaft, die mit Autorität in Verbindung gesetzt werden. Ganz unabhängig davon, ob dies auch wirklich der Fall ist, fühlt man hier unterschwellig den Druck von oben: Die Furcht vor möglichen Konsequenzen, dem „Ertappt-Werden“. Die Respekthaltung gegenüber einer Autoritätsperson wirkt auch Jahre später noch nach.
Im Seminar wäre es eher eine Entscheidung zwischen Mut und Feigheit gewesen. Bei mir lag es am Zwang des Nicht-Scheitern-Wollens.
Am Nachmittag…
Ein weiterer Grund zum Lügen im Alltag ist die Höflichkeit oder in Bezug auf familiär-freundschaftliche Beziehungen die Zuneigung.
Meine Schwester bot mir dafür eine schöne Annekdote: Sie schickte mir ein Bild von ihrem neuen Pullover. Der Schock könnte nicht größer sein. Ihre roten Haare und das Grün des Rollkragenpullovers, der ein Schleifchen auf Brusthöhe (!) hat und ihr viel zu groß ist, passen nicht zusammen. Sie sieht aus wie einer der Wichtel vom Weihnachtsmann. Da meine Schwester aber mit einem riesigen Lächeln in die Kamera starrt, muss sie das Ding toll finden, obwohl ich ihr in diesem Fall eine kleine Flunkerei vergeben hätte.
Auch wenn ich innerlich bereits eine Dissertation über den Pullover geschrieben habe, in der ich die Farbenlehre darlege, zudem einen Diskurs über Schleifchen, Täschchen und Knöpfchen auf Brusthöhe halte und am Ende ein vernichtendes Meinungsbild über zu große Rollkragenpullover zeichne, so hätte ich sie ihr nie geschickt. Eher eine kleine, nichtssagende Notlüge über ihren unverbesserlichen Modegeschmack
Doch was wäre schlimmer für meine Schwester? Wenn ich ihr von dem Pullover abrate oder sie sich in der Schule einer Totalblamage stellen muss? Ist es nicht eine meiner Pflichten als große Schwester, die Kleinere vor modischen Sünden zu bewahren?
Ich sage ihr, dass sie den Pullover umtauschen und sich etwas Neutraleres aussuchen sollte, was sie auch nachvollziehen kann. Mittlerweile bin ich mir unsicher, ob eine Notlüge die Sache besser gemacht hätte.

Am Abend…

Zuletzt wäre da noch die Notlüge aus Abneigung. Diese hat natürlich auch höfliche Züge; man will einem Menschen nicht ins Gesicht sagen, dass man ihn nicht mag und deshalb kein Bedürfnis verspürt, sich mit ihm zu unterhalten. Ich will jedoch ebenso wenig um 23:41 Uhr an meinem Selbstversuch scheitern. Eine freundliche Nachricht bei Facebook für ein Mittag­essen, stürzt mich in einen Konflikt zwischen dem Ehrgeiz den Selbstversuch durchzuziehen und dem absolut subjektiven Gefühl der Gleichgültigkeit gegenüber diesen Menschen. Bisher habe ich ihn aus reinem Selbstzweck in meiner Nähe gehalten. Er kann gut mit Technik umgehen und da ich meinen Laptop regelmäßig in einen technisch-desaströsen Zustand bringe, ist so jemand hilfreich. Das hört sich kaltherzig und berechnend an, aber ich gehe stark davon aus, dass jeder
solch einen Menschen hat. Vielleicht ein Zahlenfanatiker, der einem bei der Steuererklärung hilft. Man muss ihn nicht mögen, aber man ist immer heilfroh über seine Hilfe.
Fakt ist, dass ich mich nicht mit diesem Menschen am anderen Ende von Facebook treffen möchte.
Jede meiner Antwortmöglichkeiten wäre jedoch eine Notlüge:
„Tut mir leid, keine Zeit.“
„Tut mir leid, bin nicht in Jena.“
„Tut mir leid, …“
Am Ende fahre ich meinen Laptop ohne zu antworten herunter. Mein Selbstversuch ist offiziell vorbei. Ich hätte kurz nach Mitternacht mit einer Notlüge antworten können. Ich habe es nicht getan, mein Stolz hat es mir verboten.
Ich habe immer großspurig behauptet, wenig zu lügen. Das nehme ich hiermit zurück. In den meisten Fällen bemerke ich wahrscheinlich nicht einmal, dass ich lüge. In den anderen Fällen lüge ich zum Wohle der Allgemeinheit. Die Nachricht auf Facebook habe ich bis heute nicht beantwortet und ich weigere mich, Schweigen als eine Form des Lügens anzuerkennen.

Foto: Frederike Matthäus
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