Höllisches Nymphen-Paradies

Wiedersehen mit Lolita

von Anna-Lena Prutscher

So ein Kanon ist eine tolle Sache. Der macht das Leben leicht und gezieltes Namedropping schindet mächtig Eindruck: Flaubert, Tolstoi und Kubrick – schon kriegen Studis feuchte Unterhosen. Ganz schnell outet sich als Prolet, wer die große Kunst nicht als solche erkennt.
Wir starten eine neue Serie und widmen vermeintlichen und echten Meisterwerken Liebeserklärungen und Hasstiraden. Den Anfang macht Vladimir Nabokovs Lolita.

Es braucht nicht viel, um einen Roman zu schreiben, der die Gemüter seiner Leser und auch Nicht-Leser erhitzt. Grundzutaten sind eine frühreife zwölfjährige Amerikanerin und ein etwa 40-jähriger Europäer, in dessen Beuteschema heranwachsende Mädchen fallen. Nun lässt man die beiden aufeinandertreffen, lässt sie ihre Aromen entfalten und würzt alles mit einer unterschwelligen Prise Erotik und einem kräftigen Schuss Ironie (oder andersrum). Et voilà, heraus kommt Lolita, der wohl skandalumwittertste Roman der 50er-Jahre, wenn nicht sogar des gesamten 20. Jahrhunderts.

Doch Vladimir Nabokovs Rezept wäre beinahe nicht aufgegangen. Denn die amerikanischen Verleger scheuten sich, seinen Roman zu veröffentlichen. Zu groß war die Angst davor, pornografische Inhalte zu verbreiten. Erst ein Pariser Nischenverlag – spezialisiert auf erotische Literatur – nahm sich der Nymph­chen-Dichtung an und druckte 1955 die erste englischsprachige Ausgabe.
Bis Lolita auch in Amerika den Weg in die Buchhandlungen fand, vergingen drei weitere Jahre, in denen der Roman für kurze Zeit sogar verboten war.

Höllische Irrfahrt

Schon die Handlung könnte skurriler und perfider kaum sein: Der in Frankreich geborene Literaturwissenschaftler Humbert Humbert, „H.H.“, Protagonist und Ich-Erzähler der Geschichte, hat eine Schwäche für kleine Mädchen, von ihm auch gerne „Nymphen“ genannt.

In Amerika heiratet er die Mutter der Titelheldin Dolores „Lolita“ Haze, nur um der Tochter nahe zu sein. Lolita durchschaut den Plan ihres Stiefvaters und genießt seine Zuneigung. Auch wenn diese eine rein väterliche Liebe deutlich übersteigt, lässt sich der Teenager in jugendlicher Naivität auf die Annäherungsversuche ein.

Als die Mutter kurz nach der Hochzeit bei einem Autounfall stirbt, ergreift Humbert Humbert seine lang­ersehnte Chance. Um die teils leidenschaftliche, teils gereizte Zweisamkeit mit seiner Stieftochter unbeobachtet ausleben zu können, begibt er sich mit ihr auf einen jahrelangen Road­trip quer durch die Vereinigten Staaten. Doch als „H. H.“ feststellen muss, dass sie verfolgt werden und Lolita kurz darauf plötzlich verschwindet, wandelt sich Lolita in eine mörderische Tragikomödie.

Paradiesische Ergüsse

Nabokov wandert ungeniert an der Grenze zum Geschmacklosen. Was ihn vom Überschreiten bewahrt, ist vor allem seine sprachliche und stilistische Virtuosität.

Lolita ist vieles, aber kein einfacher Roman. Er ist auf jegliche Weise auslegbar, außerdem höchst anspruchsvoll, fast mühevoll zu lesen. Nicht nur, aber vor allem durch die vielen verschiedensprachigen Texteinschübe und literarischen Anspielungen. Die größte Schwierigkeit liegt jedoch darin, sich nicht von den Erzählungen des Protagonisten blenden zu lassen.

Humbert Humbert ist als Erzähler weder vertrauenswürdig noch zuverlässig. Mal stellt er Lolita als Verführerin dar, dann ist sie wieder das Vergewaltigungsopfer und er das Monster. In diesen Momenten, wenn der verzweifelt verliebte „H. H.“ seine Lolita mit den zärtlichsten Worten beschreibt, vergisst man als Leser für einen Moment die Grausamkeit seiner Taten: „Lolita, light of my life, fire of my loins. My sin, my soul. Lo-lee-ta: the tip of the tongue taking a trip of three steps down the palate to tap, at three, on the teeth. Lo. Lee. Ta.“

Doch der Leser verfällt nicht Humbert Humbert, sondern allein der Begabung des russischen Muttersprachlers Nabokov, die Schönheit der englischen Sprache aufs Äußerste auszukosten.
Und so lässt er den Leser hin und wieder vergessen, was Lolita eigentlich ist: ein Roman über Pädophilie und sexuellen Missbrauch, dessen Verpackung schöner ist als der eigentliche Inhalt.

 


Foto: www.imbd.de

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