Die ARD hat eine neue dreiteilige Doku herausgebracht. Warum ihr die nicht schauen solltet und vorkommende Personen ihre Teilhabe bereuen.
Text von Karolin Wittschirk
Foto und Illustration von Ulrike Reimer
Drei Frauen der ARD kamen auf die Idee, einem Ex-Fußballer eine fast dreistündige, dreiteilige Doku zu schenken. Allerdings wirkt die Reihe „Being Jérôme Boateng“ wie eine reine Image-Politur für einen Mann, der in den vergangenen sechs Jahren nicht wegen seiner Fußballkarriere in den Schlagzeilen stand, sondern wegen Gewaltvorwürfen an Frauen, Gerichtsverfahren, einem fatalen BILD-Interview und dem Suizid seiner Ex-Partnerin Kasia Lenhardt.
Die erste Folge beginnt mit weich gezeichneten Szenen: Jérôme Boatengs Kindheit und die ersten Schritte auf dem Bolzplatz. Seine Eltern werden vorgestellt, deren Trennung, Patchwork – alles eingebettet in die klassische Helden-Erzählung eines Jungen, der sich trotz widriger Umstände nach oben kämpft.
Die zweite Folge der Doku lässt ihm viel Raum, seine eigene Brillanz hervorzuheben. Fehler werden zwar besprochen, aber nur im sportlichen Kontext, unter anderem das schwierige Verhältnis zu seinem Halbbruder Kevin-Prinz Boateng, ebenfalls Profifußballer.
Doch die Gewaltvorwürfe, die sein öffentliches Bild seit Jahren dominieren, tauchen nur als Pflichtnotiz in den letzten 20 Minuten des dritten Teils der Reihe „Vom Helden zum Angeklagten“, auf. Der Titel sollte eher lauten „zum Täter und Verurteilten”, denn die Rechtslage ist klar:
Jérôme Boateng wurde in einem mehrjährigen Verfahren wegen Körperverletzung an seiner Ex-Freundin Shirin S. verurteilt. Das erste Urteil belief sich auf eine Geldstrafe von 1,8 Millionen Euro. Nach rechtlichen Überprüfungen kam es 2024 zu einem finalen Urteil, das keine sofortige Geldzahlung mehr vorsah. Boateng erhielt eine Verwarnung von 200.000 Euro, die nur bei erneuter Straftat fällig wird, und er muss 100.000 Euro an gemeinnützige Organisationen zahlen. Rechtlich gilt er dadurch nicht als vorbestraft. Milder Umgang mit einem Täter, der seine damalige Partnerin erwiesenermaßen geschlagen hat. Doch die Doku relativiert hier: Es habe „Zweifel an den Aussagen der Geschädigten“ gegeben, da noch ein Sorgerechtsstreit lief im Falle der Kinder der beiden. Boateng selbst gab eine „Rangelei“ zu.
Das Verfahren, das Kasia Lenhardt betraf, wurde Anfang 2025 eingestellt – allerdings nicht, weil er entlastet wurde, sondern die Zeugin tot ist und Fotos ihrer Verletzungen, Chatverläufe und Sprachnachrichten als Beweise nicht ausreichten.
Eine Schlüsselszene der Doku ist Boatengs Rückblick auf das BILD-Interview, das wenige Tage vor Kasias Tod Anfang 2021 erschien. In diesem wirft Boateng ihr vor, unter anderem alkoholsüchtig zu sein, seine Familie zerstören zu wollen und ihn erpresst zu haben. Es war der Startschuss einer Hasslawine gegen Lenhardt, die im Internet daraufhin als „Schlampe“ oder „Familienzerstörerin“ beschimpft wurde und „sie solle sich doch umbringen“. Die BILD wurde für das Abdrucken des Interviews in dieser Form öffentlich vom Presserat gerügt. „Jérôme Boateng äußert sich erstmals umfassend selbst dazu“, heißt es in der Beschreibung der ARD-Doku. Doch die einzige Äußerung von ihm ist: „Das Interview war ein Fehler“ – und die ARD nimmt diese Erklärung dankbar an und schließt das Thema ab. Cathy Hummels kommentiert: „Es muss einen Grund gegeben haben, warum er das gemacht hat, damals.“
Keine kritischen Fragen
Doch die ARD bleibt passiv und stellt keine Nachfrage, warum er das Interview überhaupt gab. Keine, warum er vier Jahre lang schwieg. Keine Konfrontation mit Recherchen, die zeigen, dass seine Behauptungen nie belegt wurden und die BILD gerügt wurde. Keine Thematisierung der 25 Stunden Sprachnachrichten, die der SPIEGEL im Podcast „NDA – die Kasia-Lenhardt-Akte“ analysierte und die ein deutlich anderes Bild ihrer Beziehung zeichnen: Vorwürfe eines fast gebrochenen Daumens, zerrissenen Ohres, von Überwachung, psychischem Druck und ein Geheimhaltungsvertrag (NDA), der juristisch zweifelhaft und psychologisch hochwirksam gewesen sein dürfte. Dass Boatengs eigene Mutter ihn beschuldigte, jahrelang Gewalt gegen Frauen ausgeübt zu haben und einen öffentlichen Brief schrieb, wird erwähnt, aber schnell gesagt, sie habe die Vorwürfe zurückgezogen und „falsche Informationen gehabt“. Die Doku streift die kritischen Themen nur – und läuft schnell weiter in Richtung seiner glorreichen Fußballkarriere.
Der Suizid Kasia Lenhardts wird zur privaten Tragödie des noch trauernden Ex-Freundes reduziert. Ihre Familie wollte der ARD kein Interview geben – verständlich bei dieser Darstellung. Doch dadurch verschiebt sich der Fokus immer wieder auf Boatengs Gefühle, seine Trauer. Dass selbst Cathy Hummels öffentlich sagt, sie könne nicht verstehen, warum Kasia sich „freiwillig das Leben nahm“, ohne Boatengs Verantwortung daran zu hinterfragen, verdeutlicht, wie unkritisch die Gesprächspartner ausgewählt wurden.

Dazu kommt seine fragwürdige mediale Selbstinszenierung: Boateng postete dieses Jahr ein Foto bei Instagram, um Frohe Ostern zu wünschen mit Till Lindemann, der ebenfalls mit schwerwiegenden Vorwürfen konfrontiert wird. Auf dem Tisch vor ihnen liegt ein Artikel von Ntv: „Von Lindemann bis Boateng: Schuldig!“. Die Inszenierung wirkt wie ein Statement zweier Männer, die eine Hexenjagd überlebt haben. Warum thematisiert die ARD nicht, dass dieses Foto kurz nach dem fallengelassenen Gerichtsprozess um Kasia Lenhardt entstand?
Stattdessen bemüht sich die Doku um eine neue Chance für ihn und endet mit Boatengs Trainer-Wunsch. Er hospitierte vor Kurzem beim FC Barcelona, nachdem Bayern München ihm abgesagt hatte. Die Doku übernimmt kritiklos die Darstellung: „Es hat Vorverurteilung gegeben.“ Die Bayern-Fans waren kritischer, als der Verein über eine erneute Zusammenarbeit nachdachte – mit Bannern wie: „Keine Bühne für Täter! Verpiss dich, Boateng.“ Erst daraufhin sagte der Verein Boateng die Hospitanz ab.
Die Reihe der ARD suggeriert am Ende Resozialisierung – ein gesellschaftliches Anliegen, das „jedem Menschen zustehe”. Doch Resozialisierung setzt Einsicht voraus. Boateng bestreitet bis heute Vorwürfe, obwohl er verurteilt wurde. Seine Entschuldigung zum Interview ist vage und erscheint ausgerechnet jetzt, wo er seinen beruflichen Neustart als Trainer plant. Zuvor äußerte er sich nie. Die Möglichkeit dafür hatte er, bei einer Reichweite von über neun Millionen Instagram-Followern, jederzeit gehabt.
Eine der Regisseurinnen sagt später, Stimmen aus Boatengs Umfeld seien aus Angst vor Shitstorms ausgefallen. Doch fehlende Perspektiven durch unkritische Gesprächspartner als „Multiperspektivität“ zu verkaufen, macht die Doku – wie die Süddeutsche Zeitung schrieb – letztlich wahrhaftig zu „einem Geschenk an Boateng“.
ARD bereinigt Interviews
Mehrere Personen, die in der Doku zu Wort kamen, erheben nach der Veröffentlichung schwere Vorwürfe an die ARD. Viele bereuen ihre Teilnahme und sagen, sie hätten sich kritischer geäußert, als es die Doku habe aussehen lassen. So schreibt Alexander Stevens, Anwalt für Strafrecht, der den Fall Boateng seit Jahren juristisch begleitet, in einer Stellungnahme bei Instagram: „Fast mein gesamtes Interview wurde entfernt. Nur drei aus dem Kontext gerissene Statements blieben. Meine kritische Analyse des Falls Boateng wurde so komplett verzerrt.“ Er wirft der ARD vor, dass dies nicht zufällig passierte.
Gizem Çelik (morethangossip), die bei TikTok über den Fall von Lenhardt und Boateng Videos präsentiert, äußert ähnliche Vorwürfe. Sie habe Boateng „eine Stunde lang fertig gemacht” in ihrem Interview und sich höchst kritisch geäußert, doch davon sei nichts aufgetaucht.
Die ARD wollte eine differenzierte Dokumentation liefern. Herausgekommen ist ein PR-Film, der kritische Fragen vermeidet, Täter-Narrative reproduziert und eine gefährliche Botschaft sendet: Wenn man prominent genug ist, bekommt man irgendwann doch wieder eine Bühne. Diese Doku solltet ihr deshalb nicht schauen. Sie klärt nicht auf. Sie verdeckt, poliert und zeigt, wie schnell Gewalt relativiert werden kann.
Dieser Text erschien in der Ausgabe Nr. 454, Dezember 2025

