Der Satz mit der Angst

László Krasznahorkai wird den Nobelpreis für Literatur bekommen. In Thüringen ist der ungarische Autor für seinen Kahla-Roman Herscht 07669 bekannt. Eine vier Jahre verspätete Rezension.

Text von Markus Manz und Lukas Baderschneider
Foto von Markus Manz

Was verbindet die Stadt mit der Keksrolle und die Stadt mit der Keksrollenfabrik? Was verbindet Jena mit Kahla? Da wären zum Beispiel der RE 15 oder die Bundesstraße mit dem unheilvollen Namen B88. Ruhm im Feuilleton ist es jedenfalls nicht.

Es soll schon vorgekommen sein, dass eine Stadt in Thüringen zu einigem Ansehen in der Literaturwelt kam. Aus Kahla wurde nach der Veröffentlichung von Herscht 07669 aber kein weiterer magischer Ort für Literaturwissenschaftler:innen, auch die großen Kontroversen blieben aus. Es ist sicher nicht zu viel gesagt, dass der Roman die Bewohner:innen von Kahla bis heute nie ganz erreicht hat.

Eine Wendung, die auch als unfreiwillige Pointe von Krasznahorkai verstanden werden kann. Die Menschen in Kana (seinem literarischen Kahla-Äquivalent) hätten das Buch nämlich auch nicht gelesen.

Ein Weltfremder unter Weltfremden

Das Waisenkind Florian Herscht wird von einem stadtbekannten Nazi nach Kana geholt. Der Boss, wie er von allen genannt wird, ist Fassadenreiniger und Anführer einer kleinen Gruppe abgehängter Rechtsextremist:innen in der Burg 19, die in der wirklichen Welt auch als das braune Haus bekannt ist.

Die Bevölkerung von Kana nimmt den gutmütigen Florian bereitwillig auf. Man kann sich unterhalten und Florian ein paar unbezahlte Arbeiten aufgeben. Auch im Unternehmen des Bosses wird nur schwarzgearbeitet. Für sein Umfeld ist er ein zurückgebliebener, aber sanfter Riese. Er kommt selten dahinter, was die Leute in Kana wirklich denken und noch weniger weiß er vom Draußen. Florian ist ein Weltfremder unter Weltfremden, von Anfang an naives Bindeglied zwischen den Nazis und der schweigenden Zivilgesellschaft.

Es ist reizvoll, Herscht 07669 als Schlüsselroman über die Rechtsextremen in Kahla zu lesen. Krasznahorkai nur auf lokale Themen abzuklopfen, kann dem Buch aber nicht gerecht werden. Susan Sontag nannte ihn einmal den „Meister der Apokalypse“ und tatsächlich geht es in Herscht 07669 um nicht weniger als das Ende der Menschheit. Im ganzen Roman spielt Krasznahorkai
Bedrohungslagen durch, die sich von archaischen Angstfiguren wie Wolfsrudeln über politischen Extremismus bis hin zum vollständigen Verschwinden des Universums erstrecken.
In der deutschen Übersetzung werden die Ereignisse dabei in einem einzigen 409 Seiten langen Satz geschildert, der sich mit seinen Figuren immer tiefer in die Abgrundschleifen der Kanaer Gesellschaft verstrickt.

Viele Locations sind in Kahla exakt lokalisierbar, meistens geht Krasznahorkai mit ihnen aber über ihre realen Vorbilder hinaus. Straßen führen an andere Orte, Häuser verfallen, Tankstellen explodieren. Die B88 ist Startpunkt vieler schlecht organisierter Naziaktionen. Der Boss und seine Bande verehren sie wie Bach, Bier und die erste Strophe. Gleichzeitig ist sie als Kanas Tor zur Außenwelt Sinnbild der den kleinstädtischen Mikrokosmos beherrschenden Angst des Kontrollverlusts.

Das Ende der Geschichte

Krasznahorkais Kahla-Roman ist ein unverfroren langer, aber erstaunlich gut zu lesender Schachtelsatz, über die Frage, wie eine Welt aussehen würde, in der all unsere Ängste wahr würden. Ebenso entmutigend wie faszinierend und auf jeden Fall ganz toll geschrieben.

Dieser Text erschien in der Ausgabe Nr. 452, November 2025


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