Lyrik ist tot, lang lebe die Lyrik

Mein Literaturprof klagte gerne darüber, dass niemand mehr Gedichte auswendig lernen will. Gleichzeitig können Menschen oft hunderte Songtexte mitsingen. Lyrik führt in Deutschland ein merkwürdiges Doppelleben. Warum?

Text und Foto von Markus Manz

Mein Opa war Bergmann, denn ab und zu stieg er auf Berge. Einmal fand er auf einem Gipfel ein Gedicht in eine Bank geritzt. Er merkte sich nicht, was dort stand und leider ist das auch nicht überliefert, aber es muss Eindruck hinterlassen haben. Denn kurze Zeit später wagte der Mann einen zweiten Aufstieg. Diesmal mit Stift und Papier im Gepäck. 

Ich habe diese Geschichte zum ersten Mal auf der Beerdigung meines Opas gehört und das hat gelinde gesagt ein wenig gehittet. Mein Opa war vor seinem Tod jahrelang demenzkrank, ok, aber davor hätte Lyrik unser gemeinsames Hobby sein können. Generationenübergreifendes Silbenzählen, das klingt ziemlich bildungsbürgerlich, aber so what? Dieser Austausch wäre schon deshalb wertvoll gewesen, weil das Interesse an gedruckten Versen bis heute sehr rar gesät geblieben ist in meinem Umfeld. 

Meine Mama schreibt Lieder für Familienfeiern, aber ihre Begeisterung für Hölderlin hält sich in Grenzen, mein Bruder kann auf alles einen Reim finden, aber auf dem weiten Feld des literarischen Schreibens ist das eher eine Inselbegabung. Die meisten meiner Freund:innen lesen. Sachbücher, Prosa und Dramen, aber keine Lyrik. Ein Blick auf den deutschen Buchmarkt zeigt: Das ist kein persönliches Versagen bei der Auswahl meiner Liebsten, sondern allgemeiner Ist-Zustand. 

Bist du als Lyriker:in schon mit einem Roman, bei der Zeitung oder auch wissenschaftlich etabliert, lässt sich mit Glück auch einmal einer der großen Verlage zur Veröffentlichung deiner Gedichte herab. In aller Regel wird gedruckte Lyrik mittlerweile aber in dünnen Sammelheften mit bestechenden Namen wie “Frühlingsgedichte” und “Gedichte für glückliche Stunden” oder als unfreiwilliges Dekoelement in Kalendern und Notizbüchern vermarktet. Ab und zu gibt es Neuauflagen von Anthologien, wie dem Ewigen Brunnen. Aber immer werden Gedichte dabei in sehr kleinen Auflagen und mit starkem Fokus auf Klassiker:innen wie Rilke, Brecht, Bachmann oder Heine veröffentlicht. 

Doppelleben

Während bisweilen noch Schiller als Außenseiter seiner Zeit vermarktet wird, bleiben die lebenden lyrischen Stimmen im Untergrund. Im absoluten best case ist mal eine Besprechung im Feuilleton für sie drin. Mit vielen wichtig klingenden Wörtern und überschaubarem Impact auf die Nachfrage am Buchmarkt. Zur gefühlten Unmöglichkeit, in Deutschland wieder einen interessanten Diskurs über Gedichte zu führen, trägt sicher auch bei, dass es hier keine wirklich renommierten Lyrikpreise gibt. Das höchste der Gefühle, bleibt einmal im Jahr über die Grenze nach Klagenfurt zum Ingeborg-Bachmann-Preis zu schauen und zu hoffen, dass eine:r von uns das Ding nach Hause holt.

Gleichzeitig ist Lyrik in Deutschland so populär wie nie zuvor. Musik mit deutschsprachigen Texten hat den Ruf des Provinziellen so gut wie abgestreift. In allen großen bis mittelgroßen Städten werden Poetry Slams veranstaltet und überall lassen sich Kunstkollektive, Onlinemagazine und Dichter:innenkreise finden, die Gedichten einen Platz in der Öffentlichkeit geben. Es gibt Gedichts-Influencer:innen wie Rebekka Czuba und (i’m so sorry) Julia Engelmann. Der österreichische Büchnerpreisträger Clemens J. Setz sprach jüngst sogar vom poetischen Twittern – mit guten Argumenten! 

Lyrik ohne Ende

Lyrik in Deutschland ist tot und so lebendig wie nie. Aber was fehlt dann heute und was ist neu? Vielleicht ist ein Teil dieses Phänomens mit einer anderen Haltung erklärbar, die wir heute zum Verstehen von gedruckten Texten haben. Das klingt vielleicht erstmal nach einer Nullaussage, weil wir bei Büchern an Bildung und Geschichten denken, wo sinnhaftes Lesen immer auch ein verstehendes Lesen sein muss. Beim Lesen von Gedichten zeigt das Ringen um Verstehen aber keine Defizite bei Texten oder Lesenden an, sondern ist Teil der Kunsterfahrung selbst. Der französische Dichter Paul Valéry beschrieb das als Pendelbewegung zwischen Momenten der Klarheit und dem Sich-Entziehen von Versen. Die Fragen eines Gedichts werden nicht einfach am Schluss beantwortet, wie z. B. in einem Krimi. Diese Art von linearer Spannung ist der meisten Lyrik genauso fremd wie ein objektiver Endpunkt. Gedichte zu lesen bedeutet, sie zu interpretieren und sie zu interpretieren bedeutet, sie immer wieder lesen zu müssen. Im besten Fall: Sie immer wieder lesen zu wollen. 

Ich kenne diesen Rezeptionsmodus auch von Songtexten. Ein Lied immer wieder zu hören, heißt auch, einen Zugang zu pflegen und nachzujustieren. Kurz: Ein persönliches Passungsverhältnis zu einem Text zu finden, das sich auch dort noch tief und dynamisch anfühlen kann, wo ich längst jede Zeile auswendig kann. Unsere Erwartung an den gedruckten Text ist heute vielleicht eine andere. Wir lesen Bücher zwar weiterhin mit einer gewissen Interpretationsfreude, aber wir lesen sie selten in der Absicht, zurückzukehren. Eher wollen wir uns Texte aneignen, indem wir sie abschließen und hinter uns lassen. Über jedem gedruckten Text spukt der Anspruch, noch möglichst viel anderes gelesen zu haben. Prosa, Dramen und Sachbücher lassen sich gut damit verbinden, weil sie uns passieren, als Erlebnisse und Gedanken anderer, die verstanden werden wollen. Gedichte erzählen aber selten klassische Geschichten und noch seltener sind Geschichten der Endzweck von Gedichten. Es geht auch nicht ums Überzeugen und das Vortragen von Argumenten. Oft muss das Unzugängliche, der Rätselcharakter von Gedichten gerade ihr Zugang sein. Sie sind kryptische Beziehungsangebote, häufig mit unlösbaren Fragen. Sie sind da, nicht um sie abzuschließen, sondern um bei jeder Rückkehr etwas Neues zu entdecken. Vielleicht ist uns diese Haltung gegenüber dem stillen Wort ungewohnt geworden. Vielleicht spielt es für die Rückkehr zum Gedicht aber auch keine Rolle, ob wir sie durch das Besteigen eines Berges oder mit dem Repeat-Button vollziehen. 

Dieser Text erschien in der Ausgabe Nr. 451, Oktober 2025


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