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Anarchie am Theater

Das Publikum erlebt oft nur eine fertige Vorführung. Doch wie wird Theater in Jena überhaupt gemacht?

Von Lars Materne

Ein massiver Bartresen, ein paar Holzwände mit Hirsch- und Waldmotiv und einige Stühle stehen an der Seite der Hauptbühne. Im freien Raum hängen riesige weiße Stoffe herunter und lassen den Raum größer wirken. Einige Personen sprechen über das kommende Bühnenbild. Leichtfüßig springt Henrike Commichau auf die Bühne, auf der noch eine bedruckte Folie ausgelegt ist, die den Kosmos zeigt, und lächelt in die Kamera. Der dargestellte Nachthimmel diente als Bühnenbild für das letzte Stück „Friendship never ends“, bei dem sie mitspielte.

Henrike, nicht nur im Spiegel, sondern auch im Akrützel. Foto: Lars Materne

Henrike ist Schauspielerin am Theaterhaus Jena. Sie wollte nach ihrer Schauspielausbildung unbedingt nach Jena, denn sie hatte keine Lust auf städtische Theater, bei denen ein Mann 30 Jahre an der Spitze sitzt und nur alte Werke inszeniert. In der deutschen Theaterszene sei das Theaterhaus Jena für seine flache Hierarchie bekannt.

Einen weiteren Schritt hin zu noch mehr Partizipation will das Theaterhaus Jena in der nächsten Spielzeit mit dem Ensemblerat gehen. Mit ihm soll eine Institution entstehen, die die Schauspieler:innen bei künstlerischen Entscheidungen repräsentiert. Als Dreierspitze aus Ensemblerat und künstlerischen Leitung aus Maarten van Otterdijk und Lizzy Timmers planen sie die Spielzeit für die nächsten zwei Jahre. Hierfür treffen sie sich einmal wöchentlich, um zu beraten und zu planen. Henrike sagt dazu: „Es ist ein kommunikativer Mehraufwand, der sich hoffentlich auszahlt.“

Woher kommt der Text?

Eine weitere besondere Eigenschaft des Hauses sei, dass die Person im Mittelpunkt stehe, die Theater spielen will, meint Henrike. Dazu passt auch das Konzept der Stückentwicklung in Jena. Im Gegensatz zu der eher klassischen Produktionsweise, bei der ein vorgegebener Text eingeübt und inszeniert wird, ist der Prozess der Stückentwicklung freier. Während nach der klassischen Philosophie Konzeption, Planung und Entwicklung sowie Produktion streng zyklisch ablaufen, verzahnen sich bei der Stückentwicklung die Arbeitsschritte.

Vor allem der Text für neue Stücke werde mit besonders vielen Freiheiten erarbeitet. Mal beruht die erste Idee auf Büchern und dann wird sich literarisch dem Thema genähert, ein anderes Mal ist Musik Impulsgeber und dann wird versucht, Gehörtes zu einem Werk zu transformieren. Mal stößt ein Erlebnis alles los und dann wird sich auf einer tief emotionalen Ebene dem Text genähert. Bei ihrem letzten Stück „Friendship never ends“ haben sich die Theaterschaffenden stark an Literatur über Freundschaft orientiert, sagt Henrike, um so das Thema aus unterschiedlichen Positionen auszuleuchten. Während sie davon erzählt, stellt sie mit ihren Armen Scheinwerfer dar, die ihr Licht aus unterschiedlichen Winkeln auf ein gedachtes Objekt in der Mitte werfen.

Mit Improvisation und wissenschaftlicher Genauigkeit

Während der ersten Annäherung an das Thema des Stückes wird auch der Text mithilfe von sogenannten Acts erarbeitet. Ein Act kann vielseitig sein: eine improvisierte Szene, ein erdachtes Lied, eine vorgetragene Kurzgeschichte, ein gerade erfundener Tanzschritt. Henrike sagt, dass sie sich beim letzten Stück die Aufgabe gegeben haben, einen Act zum Thema Berührungen in der Freundschaft vorzubereiten: „Damals sind wir zwanzig Minuten in verschiedene Ecken gegangen, haben überlegt, was wir darstellen möchten und dann haben wir uns unsere Acts vorgetragen.“ Ganz wichtig dabei sei, dass eine Kamera mitfilmt, um anschließend alles transkribieren zu können, denn dadurch lasse sich ein Act erst reproduzieren. Henrike findet, dass dieser Prozess einer detektivischen Arbeit gleicht. Es ist wie eine Suche, die immer wiederholt wird, um neue Hinweise zu finden, die schlussendlich aus einer Spur von Ideen einen Text ergeben.

Neben dem Text besteht ein Stück auch aus Bühnenbild, Requisiten und Kostümen. Hierfür gibt es eigene Abteilungen. Sie werden am Theater Gewerke genannt. Zu den Gewerken gehören aber auch Bühnentechnik, Ton- und Videotechnik, Lichttechnik, die sich um die technischen Aspekte eines Stücks kümmern, die dem Publikum eher verborgen bleiben.

Hilfe zur harmonischen Zusammenarbeit

Damit die Gewerke harmonisch zusammenarbeiten, benötigt es Personen wie Roland Hille. Er ist der Projektleitung zugehörig. Zu ihm kommt die Bühnenbildner:in, sobald eine erste Idee für die Gestaltung der Bühne entwickelt wurde. Mit seiner Expertise kann er einschätzen, welche Materialien notwendig sind und welche Kosten möglicherweise entstehen. Währenddessen wird ein kleines Modell erstellt. Alle Gewerke treffen sich anschließend und analysieren ihre Aufgabenbereiche. Von wo soll das Licht auf die Bühne fallen? Welche Materialien und Stoffe werden benötigt? Gibt es besondere Gegenstände oder Mittel, die benötigt werden?

Wie kniffelig die Fragen sein können, erzählt Roland: „Es gab mal ein Geschenk, in dem Kot sein sollte, da kann man ja dann keinen echten Kot nehmen, sondern man schaut, wie sich der Kot darstellen lässt. Genauso ist es mit dem Blut – das kochen wir selbst.“ Dabei ist zu beachten, meint er, dass sich Kot und Blut vom Bühnenbild entfernen und aus den Kostümen herauswaschen lassen.

Bei Roland Hille laufen die Fäden zusammen. Foto: Lars Materne

Auch das Bühnenbild technisch zu planen, stellt Roland vor immer neue Herausforderungen. Wenn auf der Bühne ein Pool stehen soll, muss er sich mit Pumpen und Wasser auseinandersetzen. Wenn die Bühne sich drehen soll, hat er sich mit Hydraulik zu beschäftigen. Für ihn ist auch der Umgang mit bereits bekannten Materialien reizvoll, denn jedes Mal kann beispielsweise Plexiglas unterschiedlich verwendet werden. Bei einem Stück wird ein Block aus Plexiglas benötigt, der besprüht werden soll und schon beim nächsten Stück braucht es ein Gewächshaus aus Plexiglas.

Alles fügt sich zu einem Ganzen zusammen

Sind die hauseigene Tischlerei und Schlosserei fertig mit ihren Arbeiten am Bühnenbild, kommt es zur technischen Einrichtung der Bühne. Hierbei wird erprobt und festgehalten, wie, von wo und wann das Licht auf die Bühne fallen soll oder wie Veränderungen des Bühnenbilds realisiert werden können. „Bis zur Premiere“, sagt Roland, „bin ich der Kommunikator zwischen allen Gewerken.“ In der entscheidenden Phase, der Endprobezeit, sitzt er bei jeder Probe auf der Tribüne, denn in dieser Zeit sehen sie das Zusammenspiel aus Bühnenbild und Schauspieler:innen zum ersten Mal und einiges kann spontan noch umgeplant werden. In der Endprobezeit werden dann auch die erarbeiteten Acts und Texte zusammengeführt.

Die Magie des Auftritts

Am finalen Abend kommt es dann nicht nur auf die Schauspieler:innen an, sagt Henrike: „Es ist immer wieder krass, aber wie ein Theaterstück wirkt, steht und fällt auch mit der Energie des Publikums. Wir schauen auch die Leute an, wir sind offen und lassen uns die Freiheit, auf das Publikum zu reagieren.“ Das gemeinsame Erleben des Stückes ist das Spannende am Theater, meint sie. Zudem findet Henrike: Dem Publikum und den Schauspieler:innen widerfährt, wie das Theaterstück ein Eigenleben im Raum entwickeltet. Dabei kann bei jedem Auftritt etwas anderes entdeckt werden.

„Du sitzt fünf Meter vor der Bühne, auf der Menschen stehen und das ist ganz anders, als wenn du Netflix schaust. Netflix ist jeden Abend gleich, Theater ist jedes Mal anders“, sagt Roland. Zudem meint er, dass Theater, die von Kommunen oder vom Land finanziert werden, sich erlauben können, mal zu experimentieren, ohne dass sie darauf achten müssen, dass jedes Stück ein Erfolg ist. Genau dieses Experiment kann auch scheitern, was aus Henrikes Sicht das Theater besonders macht: „Nichts kann retuschiert werden, es gibt einen Take und nicht drei und es ist unklarer, ob das Gespielte jetzt echt oder nicht echt ist. Theater ist viel anarchischer.“

Ähnlich anarchisch wirkt der Kosmos hinter Henrike auf der Bühne. Wie sehr sie sich im experimentellen Milieu am Theaterhaus Jena wohlfühlt, wird ersichtlich, wenn Henrike von ihrer Ausbildung erzählt, in der sie sich ungern im doppelten Sinne in ein enges Korsett zwängen ließ. Als die Begegnung mit Henrike endet, reden die Leute weiterhin über das Bühnenbild für das nächste Theaterstück „Musik – Etappen einer Skandalgeschichte“, dessen Premiere am 16. Februar ist.

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