Der REWE in der Neuen Mitte war lange ein Ort der vertrauensvollen Beziehung zwischen Kunde und Verkäufer. Waren wir nicht bereit dafür?
Text von Sascha Blochius
Foto von Dario Holz
Als im August 2022 der neue REWE-Markt in der Jenaer Innenstadt eröffnete, war in der Ankündigung der Neuen Mitte zu lesen, man könne sich auf ein ganz neues Konzept freuen. Und in der Tat: Es entstand ein Supermarkt, bei dem es nicht nur problemlos möglich, sondern auch gängige Praxis war, ihn durch die Kasse zu betreten und durch den Eingang zu verlassen. Unorthodox, frech, frei – man möchte geradezu sagen: postmodern. Der Zeitgeist fand zum ersten Mal Ausdruck in der Gestaltung eines REWE-Marktes.
Vertrauen ist gut, …
Leider wurde dieser avantgardistische Vorstoß vor nicht allzu langer Zeit rückgängig gemacht. War früher die gesamte Seite von der Kasse bis zum Blumenladen offen, regulieren nun ein Zaun und mehrere Schranken den Ein- und vor allem Austritt. Es ist nunmal wie bei allen wegweisenden Kunstwerken: Immer gibt es Banausen, die das Werk nicht verstehen wollen. In unseren Augen war der REWE-Markt, der auf eine brillante Weise die Rollenbilder von Kunde und Verkäufer herausforderte, nur eine überdimensionierte Zu-verschenken-Kiste. Zurecht beleidigt, wurde das Werk abgebaut und das altbekannte Supermarktkonzept auf Kontrollbasis eingeführt. Nun sieht der REWE-Markt aus wie die EU-Außengrenze in den feuchten Träumen von Giorgia Meloni. Waren wir nicht bereit für diese Freiheit?
Zunächst muss festgehalten werden, dass der verursachte Schaden durch Ladendiebstähle seit der Einführung und Verbreitung von SB-Kassen in ganz Deutschland kontinuierlich wächst. 2024 wurden Waren im Wert von fast drei Milliarden Euro “aus Versehen” nicht gescannt. Der Schluss, dass es sich um eine deutschlandweite Entwicklung handelt und nicht auf den REWE-Markt in der Neuen Mitte beschränkt ist, geht aber fehl. Die bei Dieben besonders beliebten Produktgruppen sind nämlich alkoholische Getränke, Markenkleidung, Sneaker, Elektrogeräte und Tabakwaren. Die gesamte obere Etage der studentischen Bedürfnispyramide also. Nicht überraschend gaben in einer US-amerikanischen Studie 53 % aller befragten Studierenden an, schon einmal Ladendiebstahl begangen zu haben. In der Gesamtbevölkerung liegt der Wert bei rund einem Drittel. Es ist nicht auszuschließen, dass ein Supermarkt, der durch seine campusnahe Lage besonders von Studierenden genutzt wird, auch besonders von Diebstahl betroffen ist.
Die Wissenschaft tut sich bisher schwer, empirisch belastbare Aussagen über die Motive der Diebe zu treffen. Sicherlich ist die häufig prekäre finanzielle Lage der Studierenden ein Faktor. Allerdings kommen Ladendiebstähle über alle Milieus hinweg vor. Daher gehen viele kriminologische Studien davon aus, dass es Motive jenseits der harten materialistischen Ursachen gibt. Beliebte Kandidaten sind beispielsweise Nervenkitzel beim Klauen, Spaß und eine gewisse Herausforderung. Diese Motive lassen sich vor allem bei gelegentlichen Dieben erheben. Bei Wiederholungstätern dominiert allerdings ein anderes Bild. Einige von ihnen geben an, dass sie bewusst klauen, weil man gesellschaftlich nicht vorankomme, ohne mit unfairen Mitteln zu spielen. Andere gehen noch weiter und sehen das Klauen bei großen Konzernen als moralisch nicht verwerflich an, weil es schließlich die richtigen treffe.
Klauen für den guten Zweck
Diese Argumentation aber geht nicht auf. Das liegt daran, dass der sogenannte Schwund – so nennen Betriebswirte den unvorhergesehenen Verlust von Warenbeständen etwa durch Diebstahl, Verderb oder Beschädigung – in der Preiskalkulation berücksichtigt wird. Das bedeutet also, dass jede geklaute Spicy Salmon Sushi Box für Preiserhöhungen bei allen anderen Produkten sorgen kann. Davon sind dann vor allem diejenigen betroffen, die nicht klauen.
Aus welchen Gründen auch immer: Es ist eine Schande, dass der ehemals freiheitliche REWE-Markt zum Fort Knox unter den Supermärkten geworden ist. Und wenn es daran liegt, dass wir Studierenden zu viel geklaut haben, wird es beinahe tragisch. Denn auch hier haben wir den REWE-Markt vollkommen missverstanden: Im Bewusstsein der prekären Lage der Studierenden hat man nämlich einen unbeschränkten Aufzug neben den Backwaren eingebaut.

