Wie kann Ehrenamt produktiv sein, wenn alle nur freiwillig da sind und niemand Chef spielen will?
Text von Anna Ittner
Foto von Thorsten Schlicke
Wenig Kappas, konkurrierende Prioritäten und anstehende Prüfungsphase: Die Umstände wirken widrig, und trotzdem finden sich regelmäßig genug Akrützelis in unserer geschätzten Redaktion im UHG ein, um alle drei Wochen eine neue Ausgabe auf die Beine zu stellen. Ganz freiwillig, ganz selbstorganisiert und – natürlich – ganz unbezahlt. Bis auf den Chefredakteur erhält hier niemand etwas für seine Arbeit, außer vielleicht ein paar positiver Rückmeldungen und das Gefühl, etwas beizutragen. Warum machen unsere Mitglieder das?
Dabei sein ist alles
Zum einen bietet das Ehrenamt beim Akrützel eine Möglichkeit, sich ohne Druck journalistisch auszuprobieren. Zum anderen schätzen viele auch einfach die Gemeinschaft unter Gleichgesinnten. Redaktionsmitglied Dario schreibt: “Ich hab’ Spaß am Schreiben und finde es toll, beim Akrützel so viele Leute zu treffen, mit denen man zusammenarbeitet, um eine gute Ausgabe zu erschaffen. Außerdem kann man mit allen immer spannende Gespräche führen”. Markus, ebenfalls Akrützel-Autor, fügt hinzu: “Mittlerweile ist das Akrützel auch eine Möglichkeit für mich, nach dem Studium weiter am Uni-Leben teilzunehmen.”
Als Arbeit wird das Ganze augenscheinlich nicht wahrgenommen, eher als Hobby. Ehrenamt ist es trotzdem und Zeitaufwand sowieso. Dabei sind Menschen doch von Natur aus faul und arbeitsscheu, behaupten zumindest Wissenschaftler und Philosophen seit dem antiken Griechenland immer wieder. Das Gegenteil beweisen Millionen von Menschen, die ganz freiwillig Arbeit leisten, ohne finanzielle Gegenleistung zu erwarten. Laut dem Deutschen Freiwilligensurvey von 2019 sind 39,7 Prozent der Bevölkerung im Ehrenamt aktiv. In Sportvereinen trainieren sie Jugendmannschaften, in Kulturvereinen stellen sie Events auf die Beine, in politischen Organisationen kurbeln sie den gesellschaftlichen Wandel an. Auch studentische Gemeinschaften wie der Studierendenrat und das Akrützel sind Teil eines breit aufgestellten Ehrenamtskatalogs, der die Gesellschaft am Laufen hält.
Erfolg ohne Boss?
Beteiligungswille ist also da, fehlt nur noch die Organisation. Naja, “nur noch”. In anderen Lebensbereichen wie Schule oder Job gibt oft eine Person oder Personengruppe den Ton an. Demgegenüber steht in vielen freiwilligen, vor allem auch in linken Gruppierungen, das Konzept von möglichst flachen Hierarchien und die viel besungene Kollektivität hoch im Kurs. Am besten solle sich niemand über die anderen erheben, alle gemeinsam entscheiden und handeln. Während der Anteil der ehrenamtlich Engagierten laut dem Deutschen Freiwilligensurvey seit Erstbefragung 1999 fast stetig gestiegen ist, sinkt die Zahl derjenigen Personen, die innerhalb der einzelnen Organisationen leitende Positionen übernehmen. Hinzu kommt, dass diese verantwortungsvolleren Positionen ein viel größeres Zeitkontingent einnehmen. Wer möchte das überhaupt noch machen in einer Welt, in der führende Politiker uns am liebsten 60 Stunden in der Woche Lohnarbeit nachgehen sehen würden?
Auch im Akrützel wird mit dem Thema gehadert. Wie bereits erwähnt, wird unser Chefredakteur bezahlt, ist (noch) in Teilzeit angestellt. Das ist auch notwendig, ohne diese Stelle wäre die Bewältigung der Redaktionsleitung wohl kaum möglich. Ein allesentscheidender Tyrann ist er natürlich nicht, Machtfragen wirft dieses Konstrukt trotzdem auf. Markus meint: “In Bezug auf das Akrützel beschäftigt mich gerade die (klassisch linke, haha) Frage, wie man hierarchiefrei auf ein besseres Organisationsniveau kommt. Ich hab’ das Gefühl, dass es gerade eine komische Gleichzeitigkeit von regelmäßigen Appellen an die Gruppe, mehr Verantwortung zu übernehmen, und einem Unbehagen über die Undurchlässigkeit (und den Missbrauch?) von Strukturen gibt und frag’ mich, warum das so ist.”
“Wer übernimmt den Leitartikel? Betretenes Schweigen.”
Die andere Seite der Medaille ist eben: Wenn Führung wegfällt, bleibt mehr Verantwortung für alle. Und mehr Verantwortung zu übernehmen, das fällt vielen schwer. Auch aus genannten gelernten Strukturen heraus, in denen oft Aufgaben von Vorgesetzten übertragen und dann ausgeführt werden. Schon in der Schule lernen wir, nur zu sprechen, wenn wir drankommen. Intrinsische Motivation ist zwar prinzipiell vorhanden, sonst säße niemand in der Redaktion, aber jemanden zu haben, der Aufgaben in mundgerechte Stücke verpackt und dann nach Gusto zugeteilt? Einfach bequemer. Dieses Denkmuster endet jedoch nicht selten in unangenehmen Situationen, in denen sich niemand angesprochen fühlt, wenn herrenlose Aufgaben ins Plenum übergeben werden. Wer verteilt die Ausgabe an der Uni? Stille. Wer übernimmt den Leitartikel? Betretenes Schweigen. Kollektive Entscheidungsfindung? Langwierig, kompliziert, nicht praktikabel – oder?
Ähnliche Fragen stellen sich wohl in vielen Freiwilligengruppen. Geht es auch ganz ohne Führungspositionen? Wie ist Ehrenamt organisierbar? Am Ende findet jede Vereinigung ihr eigenes Konzept, beziehungsweise sind im Prozess dahin. So werden vielfache Abstimmungen für jede einzelne Frage abgehalten, alle naselang Stimmungsbilder eingeholt oder Machtpositionen im Wochenwechsel weitergegeben, um eine Konzentration auf eine Person zu verhindern. Vielversprechend, aber aufwendig – und wirklich wirklich nicht gerade schnell oder effizient. Aber vielleicht darf es das auch sein, ein Gegenentwurf zur kapitalistischen Eile. “Das Schneckentempo ist das normale Tempo jeder Demokratie” sagte Helmut Kohl, das Tempo der Kollektivität ist dann wohl das, mit dem mit einzelnen Tropfen über Jahre Stalaktiten entstehen. Auch Moritz Erfahrungen mit Plenastrukturen in der Vereinigung “Refugee Law Clinic” schwanken zwischen Ineffizienz und Hoffnung: “Es dreht sich oft um dieselben Debatten; es ist sehr mühsam, voranzukommen. Wirklich gut funktioniert das oft nicht. Aber es wird schon besser.”
Schwarmintelligenz
Der neueste Ansatz des Akrützels, um uns unserer Ziele bewusster zu werden und gegenseitigen Wissensaustausch zu fördern, ist ein gemeinsames Konzeptwochenende. Die Bienen machen es vor: Alle tragen ihren Teil bei, erst dadurch entsteht Schwarmintelligenz. Die Königin ist eher für die Koordination zuständig. Dario sieht eine ernstzunehmende Herausforderung für die Redaktion: “Ich glaube, es wird sich strukturell einiges im Akrützel ändern und finde es sehr spannend, ob wir das zusammen gut hinbekommen oder im nächsten Semester das große Chaos ausbricht. Ich bin da zuversichtlich, aber ganz leicht wird es nicht”. Wenn das mal kein großes Gewusel wird.