Rebellische Klo-Lektüre

Seit 450 Ausgaben gibt es das Akrützel schon, mehr als 30 Jahre schon. Vieles hat sich verändert, vieles ist gleich geblieben. Was macht das Akrützel, die Redaktion aus?
Und wohin kann es gehen? Ein Blick in die Vergangenheit.

Am Anfang waren die Revolution und 5000 Mark aus der FDJ-Kasse. Der Zeiger steht auf kurz nach Mauerfall, genau genommen dem 24. Januar 1990, als der frisch gegründete Studierendenrat in Jena die Finanzierung einer noch jüngeren Studierendenzeitung beschließt. Von der ersten Ausgabe an wird diese den sperrigen Namen Akrützel tragen. Oder wie es damals noch im Zusatz heißt: Das Zentralorgan für alle, die es nicht besser verdienen.
Was heute nicht mehr so leicht zu glauben ist: Stura und Akrützel entstammen derselben Bewegung, dem sagenumwobenen Reformhaus. Im Herbst 1989 – vor dem Hintergrund einer erodierenden DDR – ist Reformhaus das verheißungsvolle Wort, unter dem in Jena etwa 800 der damals 3000 Studierenden über die Zukunft von Land und Universität diskutieren. Die FDJ in Jena versucht, die Bewegung einzufangen, wird dann aber von Reformern unterwandert und aufgelöst. Mit erschlagenden 90 % stimmt das Reformhaus für die Gründung des Studierendenrats, zu deren ersten Aufgaben die Einrichtung eines wohl bekannten Artikulationsmediums gehört. Wenn man so will, sind die Arbeitsgruppen des Reformhauses damit so etwas wie das gemeinsame Großmutter-Plenum von Stura- und Redaktionssitzungen. Oder ganz einfach gesagt: Das Reformhaus hatte maßgeblichen Einfluss darauf, wie studentische Partizipation in Jena bis heute funktioniert (und wie sie nicht funktioniert).
Am 9. Januar 1990 findet statt, was als die Ursitzung des noch namenlosen Heftes bezeichnet werden kann. Unter den Anwesenden: Kai-Uwe „Hoppel“ Haase, zuvor schon Leiter der Zeitungs-AG in den Reformhaussitzungen. An diesem Tag wird er zum ersten Chefredakteur unserer schönen Zeitung gewählt. Für den Posten hat der Stura schon ein Stipendium bei der Universitätsleitung beantragt. Am besagten 24. Januar macht er dann noch 5000 Mark aus eigener Tasche locker.
Bis zur ersten Ausgabe, die irgendwann zwischen Februar und März erscheint, hat die Zeitung dann auch zu ihrem Namen gefunden. Das kultige Wortungetüm kommt mit dem Medizinstudenten Bernd Zeller in die Redaktion. Wie es genau dazu kam, ist Stoff mehrerer Legenden. Historiker:innen bevorzugen eine Erzählung, nach der Zellers Mitbewohner Uwe Wurtzler ihm den Namen gesteckt hat. Wurtzler will ihn von einer Erfurter Abizeitung gekannt haben, die „genauso ein auf Blaupapier durchgezogenes Ding gewesen” sein soll. Die Ausgabe misst stolze vier Seiten. Auf dem Cover ist die Karikatur eines ineinander verschlungenen Paares zu sehen. Eine Frau mit den Proportionen Ostdeutschlands sitzt auf dem Schoß eines wie Westdeutschland geformten Mannes. Darüber ist in einer Sprechblase die Frage „Kommt’s?” zu lesen. Es ist die erste Karikatur von vielen, mit der Bernd Zeller das Akrützel prägen wird.
Neben dem Namen ist auch ein berühmtes Tier von Anfang an dabei. Das vielseitig beschäftigte Schwein, das am Anfang einfach das Schwein genannt wird und später eine Zeit lang Lilly heißen wird, ehe der Name in den 20er Jahren in Vergessenheit gerät. Lilly – in ihrer Urversion ebenfalls von Zeller gezeichnet – ist die längste Zeit auf den Covern der Zeitung zu sehen, bevor sie sich mit Ausgabe 420 (vorerst!) aus dem Medienbetrieb zurückzieht.

Vergangenheitsbewältigung

In seiner Gründungszeit war das Heft noch satirischer aufgestellt als heute. Zielscheibe waren vor allem die Mächtigen an der FSU. Dieses Selbstverständnis wird unter Zellers Chefredaktion weiter perpetuiert. Mit dem Geschichtsstudenten Robert Gramsch – der Nummer 3 im Chefsessel – tritt die Bewältigung einer damals noch sehr nahen DDR-Vergangenheit als zentraler Themenkomplex hinzu. Oft kommt auch beides zusammen.
Unvergessen bleibt die Entfernung der Marx-Büste vom UHG 1992, die man im Akrützel als Bilderstürmerei bezeichnet und dort über Monate diskutiert. 1993 schreibt das Akrützel die Stelle für den jüngst frei gewordenen Rektor:innenposten einfach mal selber aus. Mit Erfolg. Ein Kandidat, der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Rupert Windisch, bewirbt sich umgehend. Windisch, der im Akrützel als Marktfreak bezeichnet wird, ist mit sympathischen Ideen wie der Einführung von Studiengebühren angetreten. Auch dass er sich im Zeitraum seiner Kandidatur bereits ein Haus in Jena bauen lässt, wird in der Redaktion als nicht eben nahbar empfunden. Den Leuten beim Akrützel gilt er als invasive Figur – oder wie Bernd Zeller es einmal ausdrückte: „widerlich wessihaft”. Nicht verwunderlich also, dass hier mit beachtlicher Kreativität und Vielseitigkeit gegen den Ökonomen agitiert wird. Das Ende vom Lied: Windisch wurde nie Rektor der FSU – und das hat nicht zuletzt mit einer frühen Thematisierung im Akrützel zu tun.
Zwei andere Merkmale zeichnen das Akrützel dieser Zeit aus: eine stark männlich geprägte Blattlinie und 0,50 Pfennig Heftpreis. 1993 bekommt das Akrützel seine erste Chefredakteurin – bis heute eine von wenigen. Die 19-jährige Germanistikstudentin Antje Hellman erbarmt sich und übernimmt das – damals wie heute nicht unbedingt beliebte – Amt.

Seriösität

Bis zur Abschaffung des Heftpreises dauert es noch ein Jahr. Mit der Chefredaktion von Martin Debes bekommt das Akrützel Posten in den Haushalten der Jenaer Studierendenräte und wird kostenlos bzw. von nun an durch die Beiträge aller Studierenden getragen. Die Auflage steigt von 500 auf 2500, und endlich ist auch Geld für einen professionellen Druck da. „Danke dafür!” – haben sich sicher auch einige Redakteur:innen gedacht, denn die Ausgaben auf dem Campus feilzubieten, war nicht bei allen beliebt. Außerdem will Debes das Akrützel für kommunale Themen öffnen und professionalisieren. Er verwendet komische Wörter wie Seriosität und hat konkrete journalistische Ansprüche an die Autor:innen. Seine Chefredaktion ist in vielerlei Hinsicht ein Zäsurpunkt in der Geschichte der Zeitung.
Die Jahre vergehen, und im April 1999 erreicht die längst unterkühlte Beziehung zwischen Akrützel und Stura einen vorläufigen Höhepunkt. Infolge eines kritischen Artikels will man die Zeitung zum ersten Mal dichtmachen, tut sich dann aber doch schwer damit, das ordentlich zu beschließen. Im Akrützel ist man empört und reagiert mit einer Piratenausgabe. Das Heft überlebt den nicht wiedergewählten Vorstand – und damit vielleicht sein vorzeitiges Ende. Wieder einmal steht sich der Stura selbst im Weg.
2000 will derselbige das Gehalt der Chefredaktion um 200 Mark kürzen. Das Akrützel wird darüber gnädigerweise noch vor der Sitzung informiert. Eine oder zwei Stunden etwa. Zu wenig Zeit zum Reagieren, aber zum Glück wird sich der hohe Rat auch dieses Mal nicht so richtig einig. Am Ende des Tages stehen viel verpuffter Reformpathos und 70 Mark weniger auf dem Gehaltszettel des Chefs.

Satire und Empfang

Weil die Redaktion nicht damit einverstanden ist, dass der Stura nicht damit einverstanden ist, wie eine Lektoratsstelle besetzt werden soll, wird dem Akrützel einmal sein „ganzes Süßigkeitengeld” gestrichen. Daraufhin kommt es zum spontanen Sturm auf das Stura-Büro. Viele dieser Geschichten wirken in der Rückschau banal, und die Drohgebärden des Sturas zahnlos. Trotzdem ging und geht es in solchen Auseinandersetzungen fast immer auch um existenzielle Fragen für das Akrützel – Fragen, die sich der Redaktion bis heute in immer neuen Formen aufzwingen.
Noch öfter als mit persönlichen Antipathien hat das mittlerweile mit finanziellen Problemen und Inkompetenzen zu tun. So war die Zeitung in den letzten Jahren mehrfach von den selbst verschuldeten Haushaltssperren des Sturas bedroht. Nachdem dieser immer wieder versäumt hat, pünktlich Rechnungen an den Studierendenrat der Ernst-Abbe-Hochschule zu stellen, tritt der 2023 aus dem Kooperationsvertrag zur Finanzierung der Hochschulzeitung aus. Auch der seit Jahren diskutierten Umwandlung der Chefredaktion in eine Minijob-Stelle ist man aktuell näher denn je. Dabei wird der für eine Hochschulzeitung ungewöhnlich kurze Veröffentlichungsrhythmus – und die sich daraus ergebende Möglichkeit für das Akrützel, sich an aktuellen Debatten zu beteiligen – seit Gründung in ganz wesentlicher Weise durch das Arbeitspensum einer Vollzeitstelle ermöglicht.
Das Akrützel und der Stura: Was in der Rückschau wie eine spektakuläre und auch irgendwie witzige Feindschaft anmutet, von der sich alteingesessene Redakteur:innen gerne am Lagerfeuer erzählen, ist von Nahem alles andere als vergnügungssteuerpflichtig.
In den Jahren nach der Gründungszeit ist Satire von einer Säule zum Säulchen geworden. Das hat mit dem Seriösitätsanspruch seit Martin Debes zu tun, der die schärfere Differenzierung von satirischen und sachlichen Texten ganz natürlich wollen muss. Die Abkehr vom stark satirischen Zeller-Modell zeigt sich wohl am offensichtlichsten an den bis heute existierenden Satireseiten. Die offiziell gemachte Platzierung des Satirischen an einem ganz bestimmten Ort ist schließlich immer auch ein Nicht-gerne-sehen-Wollen solcher Texte auf den anderen Heftseiten.
Der bisherige Endpunkt dieser Separierung – wo beides früher noch öfter eins war – ist sicher das Outsourcing der Satireseite an eigene Redaktionen. Zum ersten Mal scheint das 2005 mit dem Feigenblatt der Fall. Das Feigenblatt hieß zuerst Campus-Zeitung und stellte sich ironisch als „konservatives Pendant zum links-hetzerischen Akrützel” dar. Die meisten negativen Leser:innenbriefe hat das Akrützel wahrscheinlich in der Zeit des Feigenblatts erreicht.
Auch intern gab es immer wieder Kritik. Dass das Verhältnis zwischen beiden Redaktionen angespannt war, darf aber als selbst gestreute Legende verstanden werden. Denn das Feigenblatt war eben doch noch viel mehr das satirische Ventil für gelangweilte Akrützel-Schreiberlinge als eine autonome Redaktion. Im Herbst 2010 wird die Seite eingestellt. In einem Artikel fordert Feigenblatt-Redakteur Philipp Böhm (zugleich Chefredakteur des Akrützel) daraufhin zur Steinigung der Akrützelredaktion auf.
Seitdem haben noch viele Satirezeitungen die Rückseite des Akrützels geziert: Gombel, Akrützel von Hinten, das Bkrützel, zuletzt das Jenseits. Anders als beim Feigenblatt bildeten sich um ein paar dieser glänzenden Namen tatsächlich eigene Redaktionen. Dazwischen war die Rückseite aber auch immer mal wieder in die Verantwortung des Akrützels zurückgekehrt.

Sehnsucht

Die Vergangenheit des Akrützels ist in bester Weise bewegt. Seine Zukunft ist traditionell ungewiss. Seine Gründer:innen, die Rebell:innen der Vergangenheit, sind heute längst selbst Teil der Eliten oder schwurbeln mit stumpf gewordener Feder in ihren Jenaer Dachgeschosswohnungen.
2025 stehen wir immer noch etwas planlos und desorientiert vor diesem Namen: Akrützel. Wie vielleicht alle Redaktionen vor uns. Wir tragen die alten Konflikte mit neuen Fragen aus.
Wie kann eine Print-Zeitung Sprachorgan für einen Campus sein, der manchmal ganz schön unpolitisch auf die eigenen Verhältnisse schaut?
Wie lässt sich ein gesichtsloses Akrützel in die Zeit von Influencer:innen übersetzen, ohne in die Falle von Contentcreation zu stürzen?
Das ewige Dilemma zwischen zielgruppenorientiertem Qualitätsjournalismus und den umstürzlerischen Sehnsüchten einer aus der Revolution geborenen Zeitung scheint längst selbst zur Identität geworden zu sein.

Markus Manz

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen