Die Angst überwinden

Interview mit einem Mitglied der DDR-Bürgerrechtsbewegung

Moritz Hütten




Zur Person:
Reinhard Meinel ist Professor für Theoretische Physik an der Universität Jena und forscht auf dem Gebiet der relativistischen Astrophysik. Während seines Studiums in Jena war er Mitglied der evangelischen Studentengemeinde. Als er nach seiner Promotion 1984 Aussicht auf eine Assistentenstelle an der Universität Jena hatte, wurde diese ihm aus politischen Gründen verweigert. Nach einem Aufenthalt in der Industrie kam er 1986 an das Zentralinstitut für Astrophysik in Potsdam, wo er schließlich Kontakte mit der Bürgerrechtsbewegung in der DDR knüpfte. 1991 kehrte er wieder an die Universität Jena zurück, wo er seit 1999 eine Professur innehat. Reinhard Meinel ist verheiratet und hat drei Kinder.

Neues Forum:
Das Neue Forum war eine überparteiliche Plattform, die im Herbst 1989 gegründet wurde und neben der kirchlichen Oppositionsbewegung und anderen Bürgerrechtsinitiativen wie „Demokratie Jetzt“ und dem „Demokratischen Aufbruch“ wesentlich zum Ende der SED-Diktatur und zur Demokratisierung der DDR beigetragen hat. Der Gründungsaufruf begann mit den Worten: „In unserem Land ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört“. Es wurde zunächst von der DDR-Staatsmacht verboten und am 8. November 1989 als „politische Vereinigung“ schließlich zugelassen. Zu den dreißig Gründungsmitgliedern gehörten zahlreiche bekannte DDR-Intellektuelle wie Katja Havemann, Bärbel Bohley und Jens Reich. Ein Teil des Neuen Forums ging 1990 im Bündnis 90 und nach der Wiedervereinigung in der Partei Bündnis 90/ Die Grünen auf.

Foto: Katharina Menzer

Herr Professor Meinel, was ist faszinierender: Die Entstehung eines Schwarzen Loches durch Gravitationskollaps oder der Zusammenbruch der SED-Herrschaft im Herbst 1989?

Schwarze Löcher sind hochinteressante Objekte – die Entwicklung in der DDR im Jahr 1989 grenzt aber an ein Wunder. Es war mir zwar klar, dass eine so absurde Konstruktion wie die DDR nicht hätte ewig existieren können. Aber hätte mir jemand vorausgesagt, wie schnell und vor allem friedlich sich die Ereignisse im Herbst 89 entwickeln würden: Ich hätte ihn oder sie schlicht für verrückt erklärt.

Wie sind Sie zur Bürgerrechtsbewegung gestoßen?

Im Herbst 1988 spielte ich zusammen mit meinem Freund und Kollegen Rudolf Tschäpe in Potsdam mit dem Gedanken, eine sozialdemokratische Partei zu gründen und wir trugen diese Idee der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley vor. Diese wandte jedoch ein, dass die Gründung einer überparteilichen Plattform zunächst sinnvoller sei. Im August 1989 wurden wir schließlich von Bärbel Bohley und Katja Havemann, der Witwe des Regimekritikers Robert Havemann, gefragt, ob wir uns an der Gründung einer oppositionellen Vereinigung beteiligen möchten. Das Gründungstreffen dieses „Neuen Forums“ fand unter konspirativen Umständen am 9. und 10. September im Haus von Katja Havemann in Grünheide bei Berlin statt. Um zu verhindern, dass die Stasi vorab informiert wurde und das Treffen unterbindet, wurden die Einladungen einzeln und nur mündlich ausgesprochen, und wir wussten nicht, wer noch kommen würde. Erst vor Ort stellte sich heraus, dass dreißig Personen, von denen ich einige kannte, eingeladen worden waren.

Wie erlebten Sie die Zeit nach Veröffentlichung des Gründungsaufrufs?

Nachdem der Gründungsaufruf am 11. September in der westdeutschen Tagesschau veröffentlicht wurde, wandten sich zahlreiche Menschen an uns, die dem Neuen Forum beitreten wollten, in einem Ansturm, mit dem wir selbst nicht gerechnet hatten. Knapp zwei Wochen später erschien dann eine kurze Mitteilung des DDR-Innenministers, in der das Neue Forum als „staatsfeindliche Plattform“ verboten wurde. Erstaunlicherweise brach auch danach die Bereitschaft zum Unterschreiben des Gründungsaufrufs nicht ab, weshalb wir uns entschieden, trotzdem weiterzumachen. Die folgenden Wochen erlebte ich aber in ständiger Angst: Es war absolut nicht abzusehen, wie der Staat angesichts der immer lauter werdenden Opposition im Land reagieren würde. Vor allem um den 7. Oktober, als die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR stattfanden, hatten wir große Angst vor einer drohenden Verhaftung; bei nächtlichen Geräuschen schreckten meine Frau und ich regelmäßig aus dem Schlaf.

Ab wann nahm die Angst ab?

Als Schicksalstag, mindestens so wichtig wie die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November, betrachte ich den 9. Oktober 1989, als die Machtorgane in Leipzig vor einer blutigen Auflösung der immer größer werdenden Montagsdemonstrationen zurückschreckten. Wir wussten oder ahnten zumindest, dass es Kräfte in der SED gab, die diesen Tag nutzen wollten, um „dem Spuk im ganzen Land ein für alle Mal ein Ende zu bereiten“. Als dies nicht geschah, verloren wir einen Großteil unserer Angst. Ab diesem Tag hatte ich das Gefühl, dass alles gut ausgehen wird.

Warum haben Sie dieses Risiko auf sich genommen?

Eine wichtige Motivation waren meine beiden Kinder, die damals sechs und vier Jahre alt waren. Sie sollten nicht noch einmal das durchlaufen, was ich selbst durchleben musste: Das strenge und ideologisch durchdrungene Schulsystem, diese militarisierte Gesellschaft, den NVA-Wehrdienst… Die Kinder waren aber zugleich meine größte Sorge: Damit uns unsere Kinder im Falle der Verhaftung beider Elternteile nicht weggenommen wurden, hat sich meine Frau nicht aktiv an der Bürgerrechtsbewegung beteiligt, obwohl sie diese genauso befürwortet hat wie ich. Es gab aber auch Paare, die gemeinsam in der Opposition tätig waren. Von einigen weiß ich, dass sie für den Fall einer Verhaftung bereits Anwaltsverfügungen unterschrieben hatten, damit ihre Kinder bei Freunden aufgenommen werden konnten und nicht in ein Kinderheim gesteckt wurden.

Warum haben Sie nicht – auch zum Schutz ihrer Kinder – wie viele andere junge Familien dem Staat den Rücken gekehrt? Im Sommer 1989 waren bereits die Möglichkeiten groß, über die ungarische Grenze den Ostblock zu verlassen.

Nach den Reformen in der Sowjetunion und dem zunehmenden Unmut der Bevölkerung nach den Kommunalwahlen im Mai 1989 rückte eine Demokratisierung der DDR in den Rahmen des Möglichen. Diese Gelegenheit wollte ich nutzen. Die Beteiligung an der Bürgerrechtsbewegung war für mich aber der letzte Versuch eine andere Zukunft vor Ort zu ermöglichen. Wäre er gescheitert, hätten wir wohl auch versucht aus der DDR zu fliehen.

Ein Scheitern der Bürgerrechtsbewegung hätte aber auch, wie Sie bereits bemerkt hatten, eine Verhaftung bedeuteten können…

Da haben Sie Recht. Deshalb verstehe ich auch sehr gut die Leute, die sich aus Sorge um ihre Familie anders entschieden und die DDR verlassen haben. Ich beurteile die Auswanderungsbewegung keineswegs negativ: Schließlich hat die kombinierte Wirkung von Auswanderung und Bürgerrechtsbewegung zum Sturz der SED-Diktatur beigetragen.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung nach dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft?

Als traurig empfinde ich es, dass die Blockparteien am Leben geblieben sind. Es wäre besser gewesen, wenn sämtliche DDR-Parteien aufgelöst worden wären. Vor allem gefällt es mir nicht, dass es eine Nachfolgepartei der SED gibt. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Wäre in der Umbruchphase 1989/1990 eine „Partei des demokratischen Sozialismus“ gegründet worden, die in keiner formalen und personellen Kontinuität zur SED gestanden hätte, wäre ich vielleicht sogar selbst beigetreten. Besonders traurig ist hierbei, dass sich heute viele junge Menschen, die sich zurecht für soziale Fragen sensibilisieren lassen, nicht über die Tradition der Linkspartei bewusst sind.

Im Neuen Forum gab es viele Stimmen, die eine – zumindest schnelle – Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik vehement ablehnten. Wie standen Sie 1990 der Frage der Deutschen Einheit gegenüber?

Die Frage einer Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik stand zunächst schlicht jenseits der Ziele der Bürgerrechtsbewegung. Unser Ziel war zunächst ausschließlich eine Demokratisierung der DDR. Als die DDR-Bürger dann schließlich frei ihren Willen äußern konnten, ist das Votum für eine baldige Wiedervereinigung eindeutig ausgefallen. Von heute aus betrachtet sehe ich die Wiedervereinigung als den natürlichsten Prozess der Welt; schließlich war sie auch die beste Garantie dafür, dass es kein Zurück mehr in das SED-Regime gab.

Welches Ereignis aus der Zeit 1989/90 haben Sie am intensivsten in Erinnerung behalten?

Das bewegendste Ereignis für mich waren der 28. und 29. Dezember 1989, als in der Tschechoslowakei Václav Havel zum Präsidenten und Alexander Dubček – die Leitfigur des Prager Frühlings 1968 – zum Parlamentsvorsitzenden gewählt wurden. Václav Havel spielte eine große Vorbildrolle für mich. Und in diesen Tagen wurde mir endgültig bewusst, dass der Prozess der Demokratisierung auch bei uns unumkehrbar war.

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